Lange Zeit sorgte die Idee der Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, ein Zentrum gegen Vertreibung in Berlin zu installieren, für lebhafte Diskussionen und zahlreiche Verwerfungen im deutsch-polnischen Verhältnis. Neben antideutschen Reflexen nationalkonservativer polnischer Politiker vom Schlage eines Jarosław Kaczyński trugen dazu vor allem auch Befürchtungen bei, Ursache und Wirkung von Flucht und Vertreibung würden verkehrt, die Deutschen würden eine Opferrolle einnehmen und die deutschen Verbrechen der Vergangenheit relativieren. Viel dazu beigetragen haben sicherlich gezielte Provokationen und unbedachte Äußerungen Steinbachs selbst, so dass die Sorge nicht unberechtigt schien, der Bock werde zum Gärtner gemacht. Ihre jüngsten Äußerungen über Władysław Bartoszewski, dem Auschwitz-Überlebenden und ehemaligen polnischen Außenminister, gossen neues Öl ins Feuer.
Welche Früchte aber eine sachlich orientierte Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg bringen kann, zeigt das nun vorliegende 'Lexikon der Vertreibungen' , zu dem ausgewiesene Experten aus zahlreichen Ländern beigetragen haben. In insgesamt 308 Einträgen wird der gesamte Themenkomplex Vertreibung breit und intensiv behandelt, von den Anfängen des 20. Jahrhunderts bis in unsere Tage. Die zentralen Akteure der Vertreibungen, die betroffenen Ethnien in den Herkunfts- und den Aufnahmeländern werden ebenso dargestellt wie die wichtigen Begriffe ' etwa 'ethnische Säuberung' , der aus dem Bosnienkrieg Anfang der 1990er Jahre hervorging und in Öffentlichkeit und Forschung rasch zu dem Begriff für Vertreibungsverbrechen schlechthin wurde. Auf die grundlegende Literatur zum jeweiligen Thema wird am Ende eines Eintrags verwiesen. Eng vernetzt werden die Lexikoneinträge durch zahlreiche Querweise, überdies sind sie vorzüglich durch ein Personen-, Orts- und Sachregister erschlossen. Für den weniger orts- und sprachkundigen Nutzer allerdings könnte es ein Hindernis darstellen, dass die Ortschaften mit wenigen Ausnahmen in der jeweiligen Landessprache aufgenommen wurden.
Das Schwergewicht der Einträge liegt sicherlich auf Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa und den mit ihrer Aufnahme in West- und Ostdeutschland verbundenen Themen. Das schlägt sich nicht zuletzt in zahlreichen Einträgen nieder, die die deutschen Volksgruppen in den einzelnen Regionen Ostmitteleuropas behandeln, wobei hier, wie andernorts auch, manchmal eine zu starke Ausdifferenzierung am Werke ist. So gibt es beispielsweise ein Lemma 'Deutsche aus Wolhynien im Ersten Weltkrieg' und eines zum Thema 'Deutsche aus Wolhynien im Zweiten Weltkrieg' , die sich mühe- und verlustlos auch in einem hätten zusammenfassen lassen. Während die deutschen Bevölkerungsgruppen mit einiger sachlicher Berechtigung sehr ausführlich dargestellt werden, gibt es bei anderen, etwa den Displaced Persons, einen summarischen Eintrag für alle, der nicht nach Herkunftsländern oder Aufnahme- bzw. Durchgangsländer unterscheidet. Solche und andere Gewichtungen haben nicht zuletzt auch ihren Grund in der unterschiedlich ausgeprägten Forschung zu den jeweiligen Bereichen.
Ein solch umfassendes und fundiertes Nachschlagewerk zu einem der zentralen Themen der europäischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts wäre schon vor zehn oder mehr Jahren dringend notwendig gewesen, doch fehlten zu wichtigen Fragen noch Antworten der Forschung. Ob das viel am Lauf der Debatten der vergangenen Jahre geändert hätte, muss offen bleiben. Zu hoffen bleibt aber, dass das Werk nicht nur viele Käufer und Nutzer findet, sondern weitere, vernetzte Forschung anregen kann und vielleicht auch ein bisschen zu einer Versachlichung manch aufgeregt geführter Debatte beiträgt.