Geschichte des Westens
Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert

Was ist der Westen? Wie wurde er zu dem, was er ist? Heinrich August Winkler versucht im (bis ins Jahr 1914 reichenden) ersten einer auf zwei Bände angelegten Darstellung auf diese Fragen zu antworten, die sich ihm nach seiner so erfolgreichen deutschen Geschichte auf dem 'langen Weg nach Westen' stellten. Dabei definiert er eingangs den Westen als ein 'normatives Projekt' , einer Deutung, der man einiges abgewinnen kann, die jedoch eine (zu) starke Konnotation von Planung in sich trägt.
Winklers Buch ist in jeder Hinsicht gewichtig. Auf rund 1200 Textseiten führt er den Leser vom Altertum bis zum Ersten Weltkrieg. Dabei sind seine Darstellungen und Analysen wie immer anregend und präzise, sprachlich auf ungemein hohem Niveau. Dass der Verfasser stets Entscheidungen über Auslassungen und Gewichtungen treffen muss, ist unabdingbar, nicht alle erscheinen jedoch nachvollziehbar.
Winkler schreibt fast ausschließlich Politik- und Ideengeschichte. Kultur und Soziales, Demographisches und Ökonomisches gehören für ihn nicht zum Wesen und Werden des Westens. Noch problematischer ist jedoch, dass er gänzlich darauf verzichtet, die Wahrnehmung des Westens von Außen in den Blick zu nehmen.
Es mag bei einem solch umfangreichen Werk kleinlich erscheinen, Kritik an der Auswahl der Inhalte zu üben, es sei jedoch angemerkt, dass beispielsweise der für Winkler überragenden Bedeutung des Monotheismus in seiner jüdisch-christlichen Ausprägung eine leider nur periphere Schilderung des griechischen Altertums und seines Erbes gegenüber steht.
Für die Schilderung des Mittelalters, die in ihrem Hauptpunkt, der sich herausbildenden Trennung von privater und öffentlicher Sphäre, zu überzeugen vermag, wählt Winkler die Entwicklungen der drei großen Blöcke. Wer sich über die staatlich-herrschaftliche Entwicklung Frankreichs, Englands und des Heiligen Römischen Reiches informieren will, ist hier gut aufgehoben. Warum Winkler jedoch einem Gebilde wie dem Herzogtum Burgund keine Zeile widmet, will sich dem Rezensenten nicht erschließen, gerade hier hätte er seinen Untersuchungsgegenstand schärfer fassen können.
Die ideen- und politikgeschichtlichen Schilderungen der Neuzeit bis hin zu den Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehören mit zum Besten, was man in solch dichter Form zu diesen Themen lesen kann. Die Kämpfe um die Menschenrechte, gerade auch um das Recht auf Selbstbestimmung, als Signum des Westens werden hier eindrucksvoll analysiert.
Winklers Grundannahme, dass der Westen sein 'normatives Projekt' nur allzu oft verraten habe, wird nirgends deutlicher als in den Schilderungen des 19. Jahrhunderts, mit seinen sozialen und politischen Ungleichheiten innerhalb der westlichen Welt (hier sei auf das allgemeine Wahlrecht und die Lage der Frauen hingewiesen), vor allem jedoch mit einem menschenverachtenden Kolonialismus.
Trotzdem ist die Bilanz am Ende zwiespältig. Die einzelnen, oft hervorragenden Unterkapitel stehen allzu sehr nebeneinander. Man hätte sich eine stärkere Konzeptualisierung gewünscht, die es ermöglichen würde, die geschilderten Entwicklungen besser in der longue durée zu fassen. Einiges spricht dafür, dass der zweite, dem 20. Jahrhundert gewidmete Band hier mehr Antworten liefern könnte. Denn trotz aller Bedenken wird man auf der historischen Suche nach dem 'Westen' an dessen Lektüre nicht vorbei gehen wollen.