Anhand der Pogrome um den 9. November 1938 lässt sich nachdrücklich zeigen, was es wirklich heißen kann, eine 'integrierte Geschichte' (Saul Friedländer) des Holocaust zu schreiben, der es eben nicht darum geht, die Selbstzeugnisse und die Geschichten der Opfer als illustratives Beiwerk einer weitgehend auf offizieller Aktenüberlieferung basierenden Forschung heranzuziehen. Eine Geschichte der Novemberpogrome, die die Texte und Geschichten der Verfolgten außer Acht ließe, schriebe im Kern die Propagandalügen der Nationalsozialisten fort.
Nach der Publikation der zeitnah entstandenen Zeugenberichte aus der Wiener Library durch Raphael Gross und andere liegt nun eine weitere Edition zeitgenössischer Zeugnisse vor, die von den Novemberpogromen berichten. Hervorgegangen sind die Texte aus einem Preisausschreiben im August 1939, das ein Psychologe, ein Historiker und ein Soziologe an der Harvard University unter dem Titel 'Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933' ausgelobt hatten. Mehr als 250 Einsendungen, überwiegend von Juden, erreichten die Jury. In vielen war der Novemberpogrom als bisheriger Höhepunkt der NS-Verfolgungspolitik ein wichtiges Thema. Der Soziologe Edward Hartshorne stellte ein Buch aus diesen Berichten zusammen, das er unter dem Titel 'Nazi Madness: November 1938' veröffentlichen wollte, wozu es aber nie kam. In den 1990er Jahren stieß Uta Gerhardt auf dieses Manuskript und machte es zur Grundlage der nun vorliegenden Edition. Bereits zuvor waren einige Texte aus der Sammlung publiziert worden, das bekannteste ist das in den 80er Jahren auf Deutsch erschienene 'Tagebuch der Hertha Narthoff' .
Die Berichte gruppieren die beiden Herausgeber in drei Blöcken in Texte mit dem Schwerpunkt Terror, über die Zeit in den Lagern und über die Auswanderungsvorbereitungen. Damit folgen sie im Wesentlichen den Planungen Hartshornes. In einem Nachwort würdigt Uta Gerhardt diesen und seine Initiative äußerst informativ. So verständlich und begrüßenswert es auch ist, in erster Linie Hartshornes unvollendet gebliebenes Buchprojekt zumindest zum Teil posthum zu verwirklichen, so sehr stellt sich aber auch die Frage, ob eine Beschränkung auf Berichte über den Novemberpogrom, auch angesichts der Publikation von Gross, sinnvoll war. Dessen ungeachtet haben Karlauf und Gerhardt ein überaus interessantes und wichtiges Buch vorgelegt, das vielleicht ein wenig an manch Aktengläubigkeit auf der einen und übertriebenen Skepsis solchen Berichten auf der anderen Seite rütteln kann.