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Imaginierter Westen - WLA-Online - Wissenschaftlicher Literaturanzeiger
Imaginierter Westen
Das Konzept des 'deutschen Westraums' im völkischen Diskurs zwischen Politischer Romantik und Nationalsozialismus

Die historische Forschung zu Grenzen hat in den letzten Jahren enorm an Facettenreichtum gewonnen. Dazu hat der 'spatial turn' maßgeblich beigetragen. Thomas Müllers Studie zum Konzept des 'deutschen Westraums' bewegt sich in diesem Forschungsfeld und erweitert es sowohl methodisch als auch inhaltlich in beeindruckender Art und Weise.
Der Titel des Buches 'Imaginierter Westen' deutet es an. Es geht nicht um staatliche Grenzen und ihre Entstehung, sondern ' plakativ formuliert ' um die deutsche Westgrenze, wie sie hätte sein sollen ' für die Vertreter zahlreicher 'Grenzdiskurse' vom 19. Jahrhundert bis zum Nationalsozialismus. Gemein ist allen Autoren, dass für sie die deutsche Staatsgrenze nie mit der 'tatsächlichen' Grenze übereinstimmte.
In der Einleitung geht Müller vor allem auf die jüngeren Arbeiten zur 'Westforschung' der 1920er Jahre und der NS-Zeit ein. Zudem präsentiert er seinen methodischen Ansatz einer 'Konzeptgeschichte', mit der er die verschiedenen Grenzdiskurse analytisch fassen will. Darin fügt er der Aufforderung Peter Schöttlers, die Texte von Westforschern in ihrem praktischen Kontext zu lesen und Argument für Argument zu analysieren, eine weitere Dimension hinzu: diese Texte sollten auch als 'Bestandteile des Konstruktions- und Aneignungsprozesses des 'Westraums'' begriffen werden. Und Müller löst diese Forderung ein, was man an der sich durchweg auf hohem Abstraktionsniveau bewegenden Argumentation ablesen kann.
Müller zeigt in einem ersten Schritt, wie die von den Nationalisten des 19. Jahrhunderts verfochtene Gleichung zwischen nationalstaatlicher Grenze und sprachlicher Grenzen durch die Arbeiten der Politischen Geographie überholt erscheint. Die Versuche der 'Sprachstatistik', zu einer linearen Grenze zu gelangen, wurden gerade auch im Kontext des Kriegs von 1870/71 überlagert von der 'Einsicht', dass Grenzen in Wirklichkeit immer Säume, 'Zwischenländer', also Räume seien. Schon hier frappiert, wie die Geographen ihre theoretischen Überlegungen immer auch mit praktischen Handlungsanleitungen verbanden, die in der Popularisierungsliteratur der 'Alldeutschen' und anderer Bewegungen nur allzu gerne aufgenommen wurden.
Um die Jahrhundertwende trat eine neue Dimension hinzu: die Erforschung der Grenzräume bewegte sich nunmehr in biologistischen Diskursen, sie wurden zu 'Organismen'. Es ist natürlich kein Zufall, wenn in diesem Kontext die rassische Komponente erheblich an Bedeutung gewann.
Die Niederlage im Ersten Weltkrieg bedeutete für den Grenzdiskurs einen erheblichen Einschnitt. Der Versailler Vertrag sorgte für eine Intensivierung des Grenzraum-Diskurses. Der Westraum wurde zur Front eines Grenzlandkampfes. Müller verdeutlicht dies exemplarisch und sehr überzeugend am Beispiel von 'jungkonservativen Diskursgemeinschaften'. Daraus geht auch hervor, wie viele Akteure tatsächlich an diesem 'Kampf' beteiligt waren, was unweigerlich zu Konkurrenz bei Ideen und Umsetzungsstrategien führen musste.
Der Übergang in die NS-Zeit geschieht in Müllers Studie nahtlos. Es bedarf nicht einmal eines eigenen Kapitels. Deutlicher kann man die weitgehende Konvergenz oder zumindest die Anschlussfähigkeit zwischen Westraum-Diskursen in der Weimarer Republik und der NS-Zeit und insbesondere den Europa-Konzeptionen der SS nicht demonstrieren.
Auf die einzelnen Vorstellungen kann hier nicht eingegangen werden. Festzuhalten bleibt die inspirierende Lektüre einer Pionierstudie, der man viele Leser wünscht.
Ein Manko sei jedoch angemerkt: angesichts der Anzahl der erwähnten Personen und Orte wäre ein Register mehr als wünschenswert gewesen.