Längst ist die Erforschung des Nationalsozialismus nicht mehr auf die Jahre bis 1945 beschränkt. Einsetzend mit den achtziger Jahren, in voller Intensität seit den neunziger Jahren hat die Zeitgeschichtsforschung die Nachgeschichte der NS-Diktatur als Forschungsgegenstand entdeckt. Zeitweise konnte gar der Eindruck entstehen als gerate darüber die empirische Untersuchung des 'Dritten Reiches' und seiner Verbrechen in den Hintergrund.
Die Früchte dieser inzwischen vielfältigen Arbeiten versammelt der Sammelband 'Der Nationalsozialismus. Die zweite Geschichte', herausgegeben von drei einschlägig ausgewiesenen Wissenschaftlern. Sie erheben für sich den Anspruch, die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in Ost und West 'in all ihren Facetten' (so der Klappentext) zu beleuchten. Solche in Mode gekommenen und absolut überflüssigen Versprechen müssen zwangsläufig unerfüllt bleiben. Über Neonazismus und Rechtsradikalismus ' auch sie gehören zur zweiten Geschichte des Nationalsozialismus ' erfährt der Leser nichts, die Rolle der alten NS-Eliten in der Bundesrepublik bleibt unterbeleuchtet und zu den Säuberungsmaßnahmen der Alliierten unmittelbar nach der Besetzung und zu der anschließenden Internierungspraxis findet man allenfalls rudimentäre Informationen.
Auch dem Anspruch, das Thema für Ost und West zu bearbeiten, wird der Band nicht gerecht. In manchen Beiträgen kommt die DDR gar nicht oder nur ganz am Rande vor: Peter Reichel erwähnt die DDR in seinem Aufsatz über den Nationalsozialismus nur dort, wo sie auf die Bundesrepublik agitatorisch einzuwirken versucht; Christoph Cornelißen handelt die DDR-Historiker in seinem Aufsatz über die 'Historiker und die zweite Geschichte' in nur einem Absatz ab.
Dessen ungeachtet entfaltet der Band aber ein breites Panorama in durchweg fundierten Beiträgen und nähert sich dem Thema aus sehr verschiedenen Richtungen: Wiedergutmachung, publizistische Kontroversen, Gedenktage, Literatur, Film, Fernsehen und vieles mehr wird untersucht und meist gut lesbar präsentiert. Während viele Beiträge den Bogen bis in die Gegenwart schlagen, liegt in manchen der Schwerpunkt auf den fünfziger und sechziger Jahren; die Zeit danach wird leider nur knapp abgehandelt.
Viele Texte liest man mit Gewinn; sie sind anregend und gehen über eine Synthese bisher erbrachter Forschungsleistung weit hinaus. Die beschriebenen Mängel und Leerstellen sind bedauerlich, lassen sich bei einem solchen Unterfangen aber wohl nicht vollkommen vermeiden. So bietet der Band einen fundierten und breit gefächerten Überblick über wichtige Kapitel der Geschichte der Bundesrepublik und vermag auch Impulse für weitere Forschungen zu setzen.