Besatzung, Kollaboration, Holocaust
Neue Studien zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden

Die Holocaustforschung erlebt, so scheint es, einen Boom, dem der vorliegende Band seine Entstehung verdankt. So gingen innerhalb kurzer Zeit relativ viele Beiträge in der Redaktion der 'Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte' ein, die verschiedene, bislang unterbelichtete, Aspekte der Verfolgung und Ermordung behandelten. Das gab den Anlass dafür, diese in einem Band der Schriftenreihe zu den 'Vierteljahrsheften' zu bündeln.
Sieben Aufsätze bieten eine wissenschaftliche Untersuchung von Regionen oder von Tätergruppen, über die wir gar nichts oder nur sehr wenig wussten: etwa ein Beitrag über die Beteiligung der Zollfahnder des Devisenschutzkommandos an der Verhaftung und Deportation von Juden aus Belgien (Insa Meinen) oder über die Verstrickung litauischer Verwaltungsbeamter in die Verfolgung und Ermordung der Juden in Vilnius. Andere Autoren, wie Stephan Lehnstaedt, gehen mit neuen Fragestellungen an altes Material und auf scheinbar bereits gut erforschtes Terrain. Mithilfe kulturwissenschaftlicher Fragestellungen an Ermittlungsakten kann Lehnstaedt den Blick der Deutschen auf die Ermordung der Juden in Warschau und die alltägliche Gewalt rekonstruieren.
Neben den dezidiert wissenschaftlichen Beiträgen steht ein Bericht über das oral-history Projekt von Pater Patrick Desbois, dessen Buch darüber Anfang des Jahres erschienen war. In diesem Projekt werden umfassende Zeitzeugenbefragungen in der Ukraine vorgenommen, um das lokale Mordgeschehen zu rekonstruieren. Desbois führt vor Augen, dass solche Interviews der Untersuchung des Massenmords an den Juden eine weitere Dimension verleihen kann, die allein mit Akten nicht erreicht wird. In manchen Fällen lassen sich erst so manche lokalen Massaker rekonstruieren.
Abgerundet wird der Sammelband durch einen Text von Wassili Grossman, der als Kriegsreporter mit der Roten Armee in die von den NS-Besatzern befreiten ukrainischen Gebiete kam. Grossman berichtet in seiner hier abgedruckten Reportage 'Ukraine ohne Juden' vom Völkermord und seinen Spuren. Nicht zuletzt dieses sehr frühe Zeugnis der Holocaustliteratur macht die Lektüre des Bandes ertragreich.
Insgesamt bereiten die Autoren auf breiter empirischer Grundlage Einsichten in neue Aspekte des Holocaust. Allerdings entfaltet der Band einen recht bunten, vielleicht zu bunten, Strauß; inhaltlich stehen die Beiträge recht unverbunden nebeneinander ' niederländische Statistiker neben Besatzern in Warschau oder litauischen Verwaltungsangestellten.