Anthropologie statt Metaphysik

Nicht wenige Philosophen wenden sich (meist zu einem späteren Zeitpunkt ihres Lebens) den sogenannten 'mortal questions' zu (vgl. etwa die gleichnamige Arbeit von Thomas Nagel). Dies gilt auch für Tugendhats Band 'Anthropologie statt Metaphysik', der neun Vorträge (ausschließlich 'Retraktarationen zur intellektuellen Redlichkeit', 85-114, geht nicht auf einen Vortrag zurück; vgl. dazu 7) in drei Teilen versammelt.

Dabei lässt sich eine relativ klare Linie vom ersten Teil ('Zur philosophischen Anthropologie im Allgemeinen', 13-57) über die 'Einzelthemen der philosophischen Anthropologie' (Teil II, 57-159) bis hin zu den genuinen 'mortal questions' bezüglich 'Tod, Religion und Mystik in anthropologischer Sicht' (Teil III, 159-205) ziehen. Tugendhat entwickelt das Konzept einer philosophischen Grundlagendisziplin, steckt zentrale Felder derselben ab und geht von dieser (quasi propädeutischen) Vorarbeit aus die genannten 'mortal questions' an.

Im ersten Teil entwickelt Tugendhat sein Konzept von der Anthropologie als neuer philosophia prima, die die Metaphysik ersetzen soll. Entscheidend ist für Tugendhat, dass die Anthropologie die Frage nach dem Wesen des Menschen nicht mehr, wie die Metaphysik, unter Bezugnahme auf 'das Übersinnliche', sondern immanent und daher nachmetaphysisch zu klären versucht (18). Dabei bleibt allerdings im Unklaren, was genau der Terminus 'Übersinnliches' hier bezeichnet, zumal Tugendhat nicht nur die Metaphysik als philosophisches Unternehmen, sondern insbesondere auch Kant immer wieder im Hinblick auf die konstitutive Rolle dieses 'Übersinnlichen' hin kritisiert; auch die Spezifizierung als 'Übernatürliches' hilft hier recht wenig, wenngleich sie tendenziell in Richtung eher religiöser denn philosophischer Argumente verweist (13; zu Kant vgl. etwa 49, u.ö.). Denn es scheint zwar plausibel, die Frage nach dem, was uns als Menschen ausmacht, unter Rückgriff auf immanent explizierbare Begriffe zu klären ' nur sind Begriffe wie 'Begriff', 'Idee', etc., die dafür unerlässlich scheinen, nicht 'sinnlich'. 'Übersinnlich' könnte ja auf metasprachliche oder metalogische Begriffe verweisen und es ist nicht unwahrscheinlich, dass genau dies immer den Kern seriöser Metaphysik seit Platon ausgemacht hat. Auch ließe sich aus dieser Perspektive an die zu Recht von Tugendhat angemahnte soziale Dimension dieser Frage anknüpfen (vgl. 39ff.) ' denn wir fragen, was uns auszeichnet; ohne diesen Bezug kann ich eben nicht klären, was mich als Menschen ausmacht.

Die 'Einzelthemen' (Teil II) kreisen im Kern um die Frage nach der immanenten Begründung einer autonomen, d.h. nicht-religiösen Moral. Dabei grenzt sich Tugendhat vor allem von einer kontraktualistischen Moralbegründung ab, da diese sich lediglich auf eine Art 'rationalen Egoismus' zurückzieht, der nicht nur Konzeptionen von Pflicht und Geltung bereits voraussetzt, sondern überhaupt die gesellschaftliche Dimension ausblendet (118f., 142). Dabei zieht sich Tugendhat nicht auf das (naheliegende) Gegenmodell einer sittlichen oder traditionalen Moralbegründung zurück, da dies schon an der von ihm betonten und geforderten 'Haltung' der intellektuellen Redlichkeit scheitert (95f.). Statt dessen verweist Tugendhat auf 'moralische Gefühle', die eine autonome Moral nicht nur 'erklären', sondern auch 'begründen' sollen: 'was begründet wird, ist nicht, daß so zu handeln ist, sondern daß man so zu handeln für gut hält und d.h. daß man sich als Mitglied einer Gemeinschaft versteht, in der man wechselseitig diese Forderungen stellt' (124). Allerdings wäre das Argument nur dann überzeugend, wenn es bedeuten sollte, dass jedwede moralische Praxis, in der wir 'moralisch sozialisiert' werden, letzten Endes auf wechselseitige Kommunikation und Begründung angewiesen ist ' und dass genau diese 'Symmetrie' (zwischen den Teilnehmern der Praxis) den 'Ursprung der Gleichheit' bildet (vgl. 144ff.). Nur bleibt insgesamt die Frage, was genau mit dem 'Ursprung' gemeint ist (ist dieser Begriff geltungslogisch oder ontogenetisch zu verstehen?). Ärgerlich ist hier (wie in den anderen Texten) die en passant geschehende Bezugnahme auf 'biologische' Faktoren, die einerseits nur bedingt klärend wirkt, andererseits angesichts der ansonsten klaren Argumentation Tugendhats fast schon als 'Zubrot' erscheint. Eine Nennung des Stellenwerts dieser Argumente wäre in jedem Falle hilfreich gewesen.
In jedem Falle ist die Grundlage für den dritten Teil relativ stark konturiert: Die Fragen der Religion (Tod und Unsterblichkeit) müssen vor dem Hintergrund einer immanenten (bei Tugendhat wohl in erster Linie 'biologischen') Anthropologie und den damit verbundenen Grenzen der Sprache beantwortet werden: Nur diejenigen Antworten können überzeugen, die einsichtige, intersubjektiv geltend zu machende Gründe anführen ' womit bereits klar ist, dass individuelle 'Wünsche' ebenso wie individuelle 'Offenbarungen' als Begründungen ausgeschlossen sind. Auch daher erweist sich die 'Frage nach der Existenz Gottes' als 'Lackmuspapier' (111).

Tugendhats Argumentation lässt sich im Wesentlichen wie folgt zusammenfassen: Religion als Glaube an ein 'übernatürliches personales Wesen' (195) ist ebenso anthropo-biologisch erklärbar wie die Angst vor dem Tod (163ff.) - weil wir gewissermaßen auf Selbsterhaltung 'programmiert' sind und daher die Nichtexistenz fürchten und Strategien zu ihrer Vermeidung suchen. Gleichwohl weist Tugendhat darauf hin, dass diese Wünsche zwar erklärbar, die aus ihnen abgeleiteten (religiösen) Konzepte aber nicht rechtfertigbar sind ' sie scheitern schlicht an der 'intellektuellen Redlichkeit', da sie keine schlagenden Gründe präsentieren können und sogar unplausibel sind. Mag man auch dem unterschwelligen Biologismus kritisch gegenüberstehen, so kann man doch nicht umhin, Tugendhat in seiner Ablehnung religiöser 'Lösungsansätze' zuzustimmen, wenngleich hier eine gewisse Ausführlichkeit wünschenswert gewesen wäre. Tugendhat hätte etwa, wie Nagel, auf die Widersprüche zwischen den Wünschen und Annahmen betreffs diverser Wiedergeburts- und Seelenwanderungslehren hinweisen können.

Problematischer ist m. E. Tugendhats eigener Vorschlag zur (praktischen) Überwindung der Angst vor dem Tod. Denn einerseits scheint nicht hinreichend klar, inwiefern man die 'Mystik' so einfach von der 'Religion' trennen kann (185f.). Andererseits ist 'Selbstlosigkeit' und die Tugend der 'Herzensgüte' sicherlich eine (auch sozial) wünschenswerte Eigenschaft (186), aber inwieweit sie sich durch ein 'das Selbst relativierende[s] Weltbewusstsein' generieren lässt (184), scheint unklar. Zumal es der Mystik, wie Tugendhat selbst referiert (ebd.), ja in erster Linie um Auflösung des eigenen Selbst geht. Ganz so einfach lässt der Tod sich den Stachel wohl doch nicht ziehen.
Die wenigen hier genannten kritischen Punkte mögen dem Vortragscharakter der überwiegenden Texte geschuldet sein, zumal Tugendhat selbst auf etwaige Einseitigkeiten und blinde Flecken hinweist (vgl. das Vorwort, 7ff.). Ihn scheinen die 'mortal questions' auch weiterhin noch zu beschäftigen und angesichts des bisweilen brillante Gedanken formulierenden Bandes, der leider auch Fragen offen lässt, verspricht dies weitere, die eigene 'intellektuelle Redlichkeit' des Lesers fordernde Texte.