Jürgen Habermas und der Papst
Glauben und Vernunft, Gerechtigkeit und Nächstenliebe im säkularen Staat

Seit seiner Friedenspreisrede 2001 hat sich Jürgen Habermas immer weitgehender und affirmativer mit der christlichen Religion und ihrer möglichen Existenz in unserer modernen  Gesellschaft auseinandergesetzt. Neben der erwähnten Rede und zahlreichen Aufsätzen ist sicherlich das Gespräch mit dem damaligen Kardinal Ratzinger und jetzigem Papst Benedikt XVI. ein Höhepunkt dieser philosophischen Annäherung an die Religion ' auf jeden Fall ist es gewissermaßen der Aufhänger von Detlef Horsters Essay.
In diesem versucht Horster nicht nur, die beiden Positionen gegeneinander abzugrenzen und zu erläutern. Sondern indem er beide zugleich kritisch hinterfragt, entwickelt er eine selbstständige, beider Argumente berücksichtigende Antwort auf die Frage, ob 'wir von Relativierung der moralischen Werte, von einer 'Diktatur des Relativismus' und von Werteverfall sprechen müssen' (10).
Dabei ist das erste Kapitel, das sich kritisch an eben dieser Diagnose Ratzingers abarbeitet, sicherlich das argumentativ stärkste. Horster zeigt nicht nur, dass diese Diagnose Ergebnis einer naiven Medienrezeption (14f.) und einer Unfähigkeit, die Neuartigkeit moralisch zu beurteilender Situationen (an)zuerkennen (25ff.), ist. Er kritisiert auch vollkommen zu Recht, dass man nur dann von einem 'Werteverfall' im Duktus des 'Untergangs des Abendlandes' (Spengler) sprechen kann, wenn man Werte fälschlicherweise mit Normen verwechselt respektive gleichsetzt (16ff.).
Bereits bei der kritischen Wiedergabe der Diskussion zwischen Habermas und Putnam (Kap. 2) allerdings wird die Argumentation deutlich schwächer ' man kann (und sollte) die Geltungsdimensionen der Diskursethik hinterfragen, aber Habermas' These, dass Normen ihre Geltung primär aus Anerkennung im Diskurs erhalten, einen moralischen Realismus entgegen zu setzen, der schlicht behauptet, Normen seien 'objektiv' im gleichen Sinne wie Tische, Bäume und Institutionen [sic], ist schlicht unterkomplex. Zumal das Argument, 'objektiv' bedeute nun einmal 'nicht von menschlicher Zustimmung abhängig' (37), streng genommen keines ist ' es könnte ja genauso gut ein Beispiel für die übliche Sprachverwirrung sein, zumal gerade Institutionen (vgl. 112: 'Moral ist genauso real wie eine Währung.') abhängig von menschlicher Anerkennung sind (wie Philosophen allerspätestens seit Hobbes wissen sollten). Die 'Klärung', ein Wert sei, was 'zum Wohle der Menschen' beiträgt (38), ist hinreichend allgemein und löst das Problem gerade nicht ' denn es führt zum einen Geltung auf Interessen zurück, was eher die Grundlage für eine kontraktualistische, nicht aber für eine realistische Moralphilosophie sein dürfte. Zum anderen aber scheint Horsters Argument ' zumindest begrifflich ' die von ihm selbst betonte Unterscheidung von Werten und Normen wieder zu relativieren, wo nicht: aufzuheben.
Das zugrunde liegende Problem lässt sich an von Horster selbst angeführten Beispielen zeigen: Sicherlich, wenn unter Durchschnittsakademikern jemand mit Nachdruck bekräftigte, er sei gegen Folter, dann würde er seltsame Blicke auf sich ziehen, weil dies ja als selbstverständlich gilt in seiner peer group (vgl. ebd.) ' aber sobald man das Milieu oder gar die Gesellschaft wechselt, wird man feststellen, dass eine solche Ansicht nicht zwangsläufig 'konsensfähig' ist. Umgekehrt gilt für den von Horster registrierten 'Aufschrei der Empörung' angesichts der Mannesmann-Übernahme durch Vodafone und der 'Entlohnung' Essers (63), dass der Aufschrei sicherlich nicht nur Ausdruck der Kenntnis objektiver moralischer Werte war, sondern sich zum Gutteil auch Faktoren wie Neid, Missgunst und Stimmungsmache verdankte. Horrende Zahlungen für vergleichsweise geringe Leistungen werden vom 'moralisch gesunden' Volkskörper in anderen Bereichen (Sport und Unterhaltung etwa) ohne weiteres geduldet.
Dieses Problem wiederum hängt mit einer durchaus zu unterstützenden These Horsters zusammen, die den Kern seiner eigenen Lösung des Werteverfalls-Problems bildet (vgl. v.a. Kap. 8): Moralität im Sinne praktisch wirksamer (anerkannter und befolgter) Moral setzt ontogenetisch eine entsprechende Erziehung voraus, d.h. eine Moral muss, wenn sie vom Adressaten wirklich als Grundlage des eigenen Handelns akzeptiert werden soll, nicht nur gelehrt, sondern auch vorgelebt werden. Eine praktisch wirksame Moral setzt notwendig eine entsprechende 'moralische Sozialisation' (Habermas [!]) voraus. Diese ist vor allem als Vermittlung einer moralischen Urteilskompetenz vonnöten, da Moral immer in konkreten Situationen, die nicht selten von Normkonflikten geprägt sind, 'angewendet' werden muss (vgl. 29).
Das bedeutet aber eben auch, dass Menschen zur Unmoral erzogen werden können, wie es nicht nur mit der Unzahl an Kindersoldaten in Afrika geschieht, sondern auch in unseren Gesellschaften immer wieder vorkommt. Die breite öffentliche Diskussion um den Fall Daschner zeigte recht deutlich, dass etwa Folter keineswegs als 'objektiv kategorisch verboten' wahrgenommen wird, wie Horster nahelegt (s.o.). Und Otto Depenheuers 'Selbstbehauptung des Rechtsstaates' (Paderborn 2007) wiederum legt nahe, dass bestimmte Argumente uns Sichtweisen nicht nur dem 'uninformierten' Stammtisch eigen sind.
In der Tat ist die bisweilen zwischen Wohlwollen und Naivität lavierende eigene Argumentation Horsters der schwächere Teil dieser, in ihrer kritischen Potenz bisweilen durchaus aufschlussreichen Studie. Das Fehlen letzterer lässt sich allerdings an Horsters Umgang mit 'dem' Christentum zeigen: Sicherlich hat auch die jüdisch-christliche Tradition zu unserem modernen Selbstbild beigetragen, aber weder ist die Gleichheit vor Gott (47) ein Zeugnis oder auch nur die Grundlage für Nächstenliebe (denn diese Gleichheit bedeutet nun einmal auch, dass alle gleichermaßen Gott anzuerkennen und ihm zu dienen haben), noch stammen 'Freiheit und Autonomie ' aus jüdisch-christlicher Tradition' (ebd.) ' denn christliche Freiheit ist in erster Linie Freiheit von der Sünde im Glauben an Gott, also strengste Heteronomie, nicht Autonomie im modernen Sinne. Diese ist eher dem Menschenbild der Antike verhaftet, welches im Übrigen nicht, wie von Horster (48f.) behauptet, ohne weiteres von der christlichen Tradition aufgenommen wurde. Vielmehr sind wir immer noch dabei, die antiken Autoren jenseits scholastischer 'Rezeption' wieder zu entdecken. Dass dieses Problembewusstsein fehlt, zeigt die zu unkritische Adaption von Ratzingers Nächstenliebeargument (Kap. 6, 7), was aus der Kirche eine Art Retterin aus der gesellschaftlichen Not macht (88). Dass auch Jürgen Habermas dieser falschen Hoffnung erliegt, ist kein Argument, dass auch christliche Kirchen verschiedener Konfessionen immer noch weltweit als Produzenten von Intoleranz und menschlichem Leid agieren, wäre mindestens eine Anmerkung wert.
Der Essay gibt zahlreiche Anregungen zu eigenem (Weiter)Denken und ist an einigen Stellen vor allem in kritischer Hinsicht durchaus lesenswert. Aber der von Horster selbst entwickelte Gegenentwurf kann sich kaum mit denen der Titelgeber messen, allenfalls noch mit Ratzingers antiaufklärerischer Vernunftkritik. Dass Horster dann auch vor bestenfalls als feuilletonistisch zu bezeichnenden Ausfällen (108: 'An Vorbildern mangelt es heute.') nicht zurückschreckt, mindert den Wert dieses Essays durchaus. Wer sich einen Überblick über diese Debatte bzw. die hier vorgetragenen Argumente verschaffen möchte, sollte also lieber zu anderen Texten Horsters und vor allem zu den hier kritisierten Autoren selbst greifen.