Das Zeitalter vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Zweiten haben bereits Zeitgenossen als europäischen Bürgerkrieg interpretiert. Nach 1945 fasste Ernst Nolte seine umstrittene Sicht von der Auseinandersetzung zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus unter diese Überschrift, wobei Nolte letzteren als Reaktion auf die ursprünglichere Gewalt der Kommunisten verstand und dafür, zu Recht, viel Kritik erntete.
Enzo Traverso, Politikwissenschaftler in Frankreich und ausgewiesen durch Studien zu Auschwitz und den Intellektuellen sowie über Moderne und Gewalt, widmet sein Buch gleichfalls diesem Zeitalter der Gewalt. Anders als Nolte jedoch, sieht Traverso ihren Ursprung 1914, im Beginn des Ersten Weltkriegs, der 'Urkatastrophe' Europas im 20. Jahrhundert. Traversos Untersuchung folgt streng analytischen Kategorien und verweigert sich einer geschlossenen narrativen Struktur. Er geht mit gesamteuropäischer Perspektive den Dimensionen der Gewalt, ihren Ausformungen, Exzessen und theoretischen Legitimationen nach. Traverso beschränkt sich keineswegs auf eine Analyse der Kriegsführung, sondern integriert vielfältige Bereicht wie Kunst, Literatur, Film, politische Theorie und vieles mehr mit ein.
Er zeichnet so ein düsteres Bild zunehmender Entgrenzung der Gewalt, die als konventioneller Krieg zwischen Staaten begann und sich rasch europaweit zu einer regellosen Gewaltorgie entfaltete, in der mühsam gefundene Selbstbeschränkungen keine Geltung mehr hatten. Die extreme Steigerung all dessen stellte die Ermordung der europäischen Juden durch die deutschen Täter und ihre Helfershelfer dar.
Fraglich ist allerdings, ob angesichts der weit über Europa hinausgreifenden Gewalt tatsächlich von einem europäischen Bürgerkrieg die Rede sein kann. Überdies konzentriert sich Traverso stark auf intellektuelle Gewaltdiskurse, während die Taten und ihre Täter häufig verblassen und in den Hintergrund treten. Dessen ungeachtet hat Traverso ein durchgängig anregendes, bisweilen zum Widerspruch reizendes Werk geschrieben.