Cultus und Heilsversprechen
Eine Theorie der Religionen

Spätestens seit Habermas' letzten Aufsätzen in den 'Blättern für deutsche und internationale Politik' ist der Ausdruck 'postsäkulare Gesellschaft' das Schlagwort, unter welchem man auf die Ambivalenz des Säkularisierungsprozesses bzw. seiner Ergebnisse verweist. Die Vorsilbe 'post' soll darauf hinweisen, dass mit der Säkularisierung, also der institutionellen Trennung von Staat und Kirche, die von manchem erhoffte Verdrängung der Religionen aus der Öffentlichkeit in die Hinterzimmer der Gesellschaft ausgeblieben ist.
In diese Debatte stellt auch Riesebrodt seine Arbeit 'Cultus und Heilsversprechen'. Die Befremdlichkeit und Unerklärlichkeit, mit der die dauerhafte Präsenz der Religionen irritiert zur Kenntnis genommen wird, hat nach Riesebrodt auch damit zu tun, dass der Religionsbegriff in einer Krise stecke (11). Diese Diagnose macht er zum Ausgangspunkt seiner Arbeit, deren Aufgabe es ist, einen neuen Religionsbegriff zu entwickeln, der sich vor anderen 'durch die Struktur der Argumentation, die Einbeziehung religiöser Traditionen Ostasiens, die Praxisorientierung und die empirische Verankerung' auszeichnen soll (12). Die Frage der Religionen in (post)säkularen Gesellschaften bildet gewissermaßen die Klammer der Arbeit (vgl. vor allem Kap 7).
Riesebrodt entwickelt seinen Religionsbegriff vor allem gegen die postmoderne Kritik, dass der Begriff der Religion Ergebnis westlicher Kolonisierungsbestrebungen und damit ideologisch verdächtig und ohne Signifikanz für nicht-europäische Gesellschaften sei. Nach einer kurzen Darstellung der postmodernen Kritik (Kap 1) verweist er auf den Umstand, dass die (auch von der Kritik vorausgesetzte) Fragestellung falsch sei: so frage man seit der Aufklärung nach dem Wesen der Religion (20f.), also nach der Religion an sich unabhängig von Raum und Zeit, wobei mit dem Begriff der Religion vielmehr 'bestimmte Typen sinnhaften Handelns' in Raum und Zeit zusammengefasst würden (43). Riesebrodt verweist vor allem auf den Umstand, dass es vor allem auf 'die Wahrnehmung einer Differenz zwischen religiösen und nicht religiösen Handlungen, Akteuren und Institutionen' ankomme (ebd.). Diese Selbst- und Fremdwahrnehmung, so weist Riesebrodt vor allem durch vergleichende Analysen im zweiten Kapitel nach, besteht auch außerhalb westlicher Gesellschaften. Nur lässt sich, insofern ist die postmoderne Kritik prima facie im Recht, oft kein Begriff der Religion bei ihnen finden ' was allerdings eher auf das Problem der falschen Frage verweist als auf den Umstand, dass es außerhalb des Westens schlicht keine Religionen gebe.
Weil die Probleme also aus dem bisher falschen Verständnis von Religion resultieren, grenzt Riesebrodt sich in seinem Entwurf von den bestehenden 'wissenschaftlichen Imaginationen von Religion' (Kap 3) ab, wobei vor allem die Kritik an einem funktionalistischen Religionsbegriff, der Religion über ihre sozialintegrative Funktion zu bestimmen sucht, breiteren Raum einnimmt und immer wieder betont wird (zusammenfassend 106f.).
Nach Riesebrodt ist Religion weder Ware noch Einbildung oder Gehirnfunktion, sondern vielmehr 'ein Komplex religiöser Praktiken, die auf der Prämisse der Existenz in der Regel unsichtbarer persönlicher oder unpersönlicher übermenschlicher Mächte beruhen' (113). Diese Interaktion mit 'übermenschlichen Mächten' in Formen institutionalisierten Cultus' dient, so Riesebrodt, aus der Binnenperspektive der Religionen und ihrer Mitglieder der Abwehr von Unheil und der Beschwörung von Heil. Die Analysen der Kapitel 5 bis 7 unterstützen diese These auf den ersten Blick, vor allem auch hinsichtlich (ost)asiatischer Religiosität.
Allerdings ist die Betonung der Interaktion mit übermenschlichen Mächten nicht unproblematisch, zumal Riesebrodt sie durch ein methodisch problematisches Vorgehen gewinnt. Es ist zwar lobenswert, dass er sich von der verbreiteten Strategie abgrenzt, das Selbstverständnis einer Religion bei sich zu ihr bekennenden Theologen und Intellektuellen erfragen zu wollen. Nur verschiebt er in der Folge das Gewicht der Analyse tendenziell übermäßig auf die Seite der (in der Mehrzahl befindlichen) Laien. Waren die Intellektuellen vorher überrepräsentiert, so fallen sie nun nahezu vollständig aus Blickpunkt der Analyse heraus. Riesebrodt begründet dies damit, dass man sich ' gerade bei der Untersuchung vergangener Kulturen und Religionen ' empirisch nur auf die festen Traditionsbestandteile, die liturgischen Regeln und Kodizes, stützen könne, die man daher ernst nehmen müsse, anstatt sie möglichst 'vernünftig' umzudeuten. Dabei unterstellt er, dass diese vorgegebenen Handlungsschemata dementsprechend den Rahmen des individuellen Selbstverständnisses vorgeben (dies wird vor allem in seiner Analyse der Konversionserzählungen deutlich, 219ff. ).
Sicherlich ist die Betonung der Praxis, also der gelebten Religion, ebenso begrüßenswert wie methodisch einsichtig ' gerade die These der Privatisierung von Religion verdankt sich ja einer diesbezüglichen Naivität. Allerdings kommt Riesebrodt zu dem Schluss, dass religiöses Handeln schlussendlich immer Reaktion auf eine aktuelle oder permanente Krise (also auf drohendes Unheil) sei ' denn man wendet sich nur an die Götter, wenn man ihre Hilfe braucht. Die für Religionen konstitutive Kosmologie, die ja gerade mit der Annahme einer Götterwelt oder (überirdischen) höheren Macht verbunden ist, ignoriert Riesebrodt, weil sie in vielen Religionen nicht explizit (etwa in Form von Mythen) vorliegt oder weil die für seine Methode entscheidenden Laien sie ohnehin nicht formulieren könnten. Daher wird diesseitiges (weltliches) religiöses Engagement, welches ja vor allem politisch problematisch wird, von ihm in erster Linie als eine Strategie zur Heilsgewinnung betrachtet, so dass politische Intervention von Religionen zwar im Einzelfall möglich, auf keinen Fall aber notwendig scheint ' wogegen die These steht, dass es strikt aus der religiösen Logik folgt, die Welt Gott untertan zu machen. Außerdem scheint Religion nur dann zu erstarken, wenn eine Krise wahrgenommen wird (dies wird vor allem im letzten Kapitel, betitelt 'Die Zukunft der Religion', deutlich, vgl. 237ff.), eine alltägliche Bedeutung darüber hinaus hat sie nicht.
Die Kritik an Riesebrodts ebenso materialreicher wie klar strukturierter Arbeit ist in erster Linie, dass sie bei einem abstrahierten Begriff der Religion stehen bleibt und durch die Konzentration auf das vermeintliche Selbstbild der Laien und die Betonung der Liturgie mit der Beeinflussung übermenschlicher Mächte zwar einen wichtigen Aspekt der Religion hervorhebt, diesen aber überbetont. Denn selbst wenn Religionen nicht, wie etwa das Christentum, ihr Weltbild explizit formulieren, so unterstellt der Gläubige gerade in seinem Vertrauen auf eine Praxis, dass die Welt auf eine bestimmte Weise beschaffen ist ' und diese Weltanschauung ist wiederum prägend für sein alltägliches Verhalten, zum Beispiel Mitgliedern anderer Religionen gegenüber. Dieser Aspekt fehlt leider in der ansonsten äußerst anregenden Arbeit Riesebrodts.