Himmlische Quellen und irdisches Recht
Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates

Nachdem in den Feuilletons und mehr oder weniger gelehrten Monatszeitschriften mit intellektuellem Anspruch in den letzten Jahren die Wiederkehr der Religion herbeigeschrieben wurde, bekommt seit einiger Zeit zusehends auch das Unternehmen Aufschwung, Errungenschaften der Moderne, wenn sie nicht als antichristlich verteufelt werden können, sie dann eben als 'eigentlich christlich' auszudeuten. So auch die Menschenrechte und das in ihnen zum Ausdruck gebrachte Menschenbild eines vernunftbegabten und daher freien (autonomen) und in dieser Freiheit mit allen anderen Menschen gleichen Wesens.
Einen weiteren dieser Versuche unternimmt Tine Stein in ihrer Monographie 'Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates', die auf ihrer politikwissenschaftlichen Habilitation gründet. Die Kernthese Steins, dass das 'für den demokratischen Verfassungsstaat konstitutive Leitbild des Menschen als frei, gleich und mit einer unverfügbaren Würde ausgestattet von den biblischen Erzählungen geprägt ist' (S. 8), will sie methodisch durch drei aneinander gekoppelte Hypothesen beweisen (S. 53ff): Die Genesis-Hypothese, wonach die zentralen Begriffe und Argumente modernen (demokratischen) Denkens im Grunde Derivate christlicher Topoi sind, die Geltungs-Hypothese, nach der diese geistesgeschichtliche Abhängigkeit auf die notwendige normative Grundlage dieser Topoi, nämlich die christliche Religion, geltungslogisch rückverweist und die anthropologische Hypothese, welche 'besagt, dass das Bedürfnis nach Transzendenz zur menschlichen Grundausstattung gehört' (S. 46), wobei dieses Bedürfnis laut Stein sich 'bei vielen Menschen' (ebd.) durch Teilhabe an einer der vorhandenen Religionen äußert. Die letzte These ist allerdings für die weitere Argumentation von eher geringer Bedeutung, so dass auf ihre mangelhafte argumentative Basis nicht weiter eingegangen werden muss.
Problematisch an Steins Untersuchung ist neben der Ungenauigkeit einiger zentraler Begriffe (Stein verwendet 'religiös-metaphysisch' und 'metaphysisch' teilweise äquivalent, andererseits unterscheidet sie 'religiös-metaphysisch' und 'vernunft-metaphysisch', wobei der Begriff der Metaphysik im Ganzen nebulös bleibt; auch setzt sie ohne weiteres den Begriff der christlichen Freiheit (Unterwerfung[!] unter den Willen Gottes) gleich mit dem Freiheitsbegriff der modernen politischen Philosophie (Autonomie)) vor allem die Methode: Sie wendet sich gegen eine sozialgeschichtliche Methode zugunsten der ideengeschichtlichen (S. 28), was insofern problematisch ist, als Stein die biblischen Texte 'jenseits der historisch-kritischen Lesart schlicht [auf] de[n] Sinn und [die] Bedeutung der Erzählungen' hin interpretiert ' so dass sie postulieren muss, die Texte wären in der Weise, wie die Autorin sie rekonstruiert auch in der gesamten christlichen Tradition verstanden worden. Denn nur unter dieser Prämisse ist die Genesis-Hypothese plausibel, denn exakt dasjenige Menschenbild, dass Stein in der biblischen Texten findet (diese 'Arbeit am christlichen Mythos' bildet im zweiten Teil der Arbeit (Kap. 3 bis 7) den quantitativen Schwerpunkt der Monographie), ist ihrer Meinung nach ja die geistesgeschichtliche wie geltungslogische Grundlage unseres freiheitlichen Denkens. So aber verweist Stein lediglich darauf, dass es wohl einzelne Theologen und Kirchenvertreter gegeben habe, die in Berufung auf diese Botschaft gegen sie gehandelt hätten, scheint dies aber als Ausnahmen abzutun, weil sie gewissermaßen nicht die Mehrheit der Christen repräsentierten. Dass diese Mehrheit aber in Ermangelung minimaler schulischer Bildung Jahrhunderte lang nicht in der Lage war sich durch Bibellektüre ein differenziertes Bild von der 'eigentlichen' Botschaft des Textes zu machen und daher angenommen werden muss, dass sie einfach die 'verirrten' Meinungen ihrer Hirten übernahm (die i. Ü. keineswegs immer die Außenseiter waren, als die Stein sie wahrzunehmen scheint), wo sie sich überhaupt intensiver mit dem Christentum befasste, kann mangels sozialgeschichtlicher Perspektiven bei Stein nicht ins Gewicht fallen. Allerdings lässt Steins Unterstellung einer weitestgehend homogenen christlichen Tradition eine differenziertere Betrachtung derselben, die hierfür die nötige Grundlage wäre, wohl auch nicht zu. So hätte eine Differenzierung zwischen von Klöstern und Universitäten getragener Theologie und von Bischöfen und anderen politischen Institutionen getragener Kirchenpolitik eventuell das Verständnis für die institutions- und machtlogische Politik der Kirche in Raum und Zeit schärfen können, das so weitestgehend fehlt.
Auch fehlt das Gespür für die ideengeschichtlich entscheidende Frage, in welchem Sinne ein bestimmter Autor welche Begriffe überhaupt verwenden konnte ' im Rahmen seines Wissens und seiner Zeit, weil vorschnell kategorisiert wird in Christen (Mehrheit) und Nicht-Christen (Minderheit). Dass dann ohne weitere Probleme nach Stein sowohl Kant als auch Habermas in die erste Kategorie zählen, wird weder dem einen noch dem anderen gerecht. Kants Rede von der Würde des Menschen als Selbstzweck einfach übersetzen zu wollen in die christliche Rede vom Menschen als Geschöpf Gottes ist vor allem aufgrund der Religionskritik Kants naiv und unterschlägt den kategorischen Unterschied zwischen theonomer und Vernunftbegründung der Moral ' Heinrich Heines Bemerkungen, nach denen Kants Philosophie das Schwert sei, mit welchem dem Theismus der Kopf endgültig abgeschlagen würde, scheinen dem Sachverhalt allemal angemessener. Ebenso scheint Troeltschs (auf den Protestantismus bezogene) These von der Demokratie als unbeabsichtigter (und ungewollter!) Folge der Reformation wahrscheinlicher als die Unterstellung Steins, das Christentum (als Glaubensgemeinschaft) habe immer schon auf sie hingearbeitet bzw. diejenigen, die letzteres taten waren eigentlich immer Christen (wenn auch unbewusst, wie Voltaire).
Unter dieser Unschärfe der genealogischen Arbeit leidet dann notwendig auch die Geltungs-Hypothese, denn es wird recht schnell offenbar, dass 'das' Christentum in dem von Stein behaupteten Sinne nicht die treibende Kraft der Befreiung der Menschen gewesen ist und daher scheint dann auch die Annahme unlogisch, diese erlangte Freiheit des Menschen ließe sich nur christlich rechtfertigen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint selbst Stein minutiöser Nachweis der christlichen Intentionen der Eltern des Grundgesetzes (S. 280ff.) als nichts mehr denn als ein Hinweis auf historische Mentalitäten, der aber nichts über das geltungslogische Fundament des so entstandenen Grundgesetzes aussagt.
Positiv formuliert könnte man sagen: Stein legt den Grundstein zur durchaus nicht selbstverständlichen Versöhnung des Christentums mit der modernen Welt, indem sie die biblischen Texte gegen die christliche Tradition interpretiert (womit sie die Genesis-Hypothese rein systematisch nicht aufrechterhalten kann). Aber mehr als diese Grundsteinlegung leistet sie nicht. Ihre vor allem gegen Ende der Arbeit zu Tage tretende Absicht, eine starke normative Grundlage für christliche Argumente in bioethischen Debatten zu legen (siehe hierzu Kap. 9) verfehlt sie allerdings aus den genannten Gründen. An dieser Stelle wird auch der eigentliche Gegner Steins sichtbar: ein naiv naturwissenschaftlich argumentierender Szientismus, wobei Stein auch an dieser Stelle nach dem Prinzip des tertium non datur arbeitet, wie in der Genealogie: (aufgeklärter) Christ oder Nicht-Christ (Szientist, Materialist, . . .). Dass eine derartige Vogelscheuche einen 'guten' Gegner abgibt, ist seit den Angriffen auf 'die' Metaphysik durch Carnap und andere bekannt.
Insgesamt ist das Buch durch zu viele methodische und inhaltliche Mängel gekennzeichnet, als dass es im Ganzen überzeugen könnte; wobei ein Aufzeigen faktisch nachweisbarer christlicher Traditionslinien durchaus wünschenswert gewesen wäre ' nur hätte er sich eben vernünftiger Methoden bedienen und aktuelle politische Fragestellungen in den Hintergrund rücken müssen. Von dem Status eines 'Schlüsselwerks' (S. 28) ' und damit: vom eigenen Anspruch ' ist Steins Buch jedenfalls weit entfernt.