Ein Bündel Briefe, vom Dachboden geborgen, mit einer dichten Überlieferung von Krieg und Besatzung ' welcher Zeithistoriker träumt nicht von so einem Fund, von dem noch viele unentdeckt schlummern mögen. Etwas anderes jedoch ist es, wenn es Briefe des eigenen Vaters sind, mit denen sich der Historiker auseinander setzen muss, eines Vaters zumal, den man nie kennen gelernt hat.
Dieser Herausforderung hat sich Konrad Jarausch, lange Zeit Leiter des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Professor in Chapel Hill, gestellt, wofür ihm Anerkennung gebührt. Herausgekommen ist eine kommentierte Edition der Briefe seines Vaters, zunächst aus dem besetzten Polen, später aus der Sowjetunion, wo er in einem Kriegsgefangenenlager für Rotarmisten Dienst tat.
Konrad Jarausch senior gehörte zu der mittlerweile berühmten Kriegsjugendgeneration: 1902 geboren und damit zu jung, um aktiv am Ersten Weltkrieg teilzunehmen, hat er unter der verpassten 'Bewährungschance' gelitten. Eine letzte Gelegenheit dafür sah er in der Teilnahme am Zweiten Weltkrieg. Jarausch war Lehrer und stark in der neulutheranischen Religionspädagogik engagiert. Dem Nationalsozialismus stand er zunehmend zwiespältig gegenüber: Auf der einen Seite fühlte er sich vom Gedanken der 'völkischen Erneuerung' angezogen, auf der anderen Seite lehnte er die neuheidnischen Züge strikt ab.
Ende August 1939 schließlich wurde er zur Wehrmacht einberufen und gelangte im September 1939 nach Polen, ohne jemals an Kampfhandlungen beteiligt gewesen zu sein. Grundsätzlich billigte er Krieg und Annektionen im Osten. Polen begegnete er mit einer Mischung aus einem traditionellen Überlegenheitsgefühl, Neugier und Mitleid. Bemerkenswert ist der menschliche Blick auf die besetzte Bevölkerung. Zwar scheinen viele Vorurteile durch, aber dennoch hat Jarausch nicht nur das eigene Wohl im Blick, sondern registriert aufmerksam und mitfühlend die Lage der Bevölkerung.
Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wird Jarausch Leiter der Lagerküche eines Durchgangslagers für sowjetische Kriegsgefangene. Dort erlebt er hautnah und hilflos das Elend und Massensterben der gefangenen Rotarmisten. Seine empathischen Schilderungen aus dem Lager ergeben gemeinsam mit den andernorts auszugsweise veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen des deutschen Lagerkommandanten ein dichtes Bild vom Leiden der sowjetischen Kriegsgefangenen und von der Reaktion deutscher Soldaten darauf. Diese Passagen alleine machen Jarauschs Briefe zu einer Quelle allererster Güte. Zugleich dokumentieren sie den Prozess einer zunehmenden Desillusionierung, an dessen Ende die Zweifel an der Berechtigung des Krieges deutlich überwogen.
Die Edition der Briefe seines Vaters, die Konrad Jarausch gemeinsam mit Klaus-Jochen Arnold vorgenommen hat, verdient größten Respekt. Sie macht der Öffentlichkeit ein wichtiges Quellenkonvolut zugänglich, dem eine breite Leserschaft zu wünschen ist. Vorangestellt sind den Briefen zwei Einführungen der Herausgeber. Konrad Jarausch begibt sich in einem durchaus persönlichen Text als Historiker auf Vatersuche. Klaus-Jochen Arnold ordnet die Stationen und Briefe von Konrad Jarausch sen. in den historischen Kontext ein, langweilt den Leser teilweise aber leider mit langatmigen Passagen zu Unterstellungsverhältnissen, die für das Verständnis der Briefe vollkommen entbehrlich wären. Die Briefe sind zurückhaltend, aber ausreichend und meist kenntnisreich kommentiert. Kleine Fehler, die sich eingeschlichen haben, können in einer zweiten Auflage noch korrigiert werden. Diese jedenfalls wäre dem Buch zu wünschen!