Die deutsche Archivpolitik im besetzten Polen und in der Ukraine im Zweiten Weltkrieg und das Verhalten der dort aktiven Archivare entbehrt auf Grund der aktuellen deutsch-polnischen Streitigkeiten etwa um deutsche Handschriften, die heute in der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau aufbewahrt werden, nicht einer gewissen Aktualität. Stefan Lehr geht dem 'Osteinsatz' der deutschen Archivare in der veröffentlichten Fassung seiner Düsseldorfer Dissertation von 2006 nun auf den Grund.
Der zeitliche Bogen der Arbeit ist weit gespannt und reicht von der preußischen Archivverwaltung während des Ersten Weltkriegs in Polen bis weit in die Nachkriegszeit. Fast ein Drittel des Buches widmet Lehr der Vorgeschichte des 'Osteinsatzes'. Er skizziert das deutsche, polnische und ukrainische Archivwesen in der Zwischenkriegszeit und vergleicht diese miteinander.
Ausführlich geht der Verfasser im ersten Teil auf die biographischen Hintergründe und das Selbstverständnis derjenigen Archivare ein, die später unter deutscher Besatzung 'im Osten' aktiv wurden. Die mehrheitlich ohnehin sehr national eingestellten Archivare vollzogen, wie viele andere auch, ab 1933 letztlich eine Selbstgleichschaltung und verrichteten ihre Arbeit bereitwillig im Sinne des Systems. Dass jüdischen Nutzern bald schon der Zugang zu den Archiven verwehrt blieb, initiierte zum Beispiel der Generaldirektor der preußischen Staatsarchive, ohne dass es hierfür einer Anweisung 'von oben' bedurft hätte.
Insgesamt 13 deutsche Staatsarchivare wirkten nach dem Kriegsbeginn im Generalgouvernement und im Reichskommissariat Ukraine; lediglich drei von ihnen konnten überhaupt keinen Bezug zum 'deutschen Osten' oder zur Ostforschung aufweisen, alle anderen waren einschlägig qualifiziert. Sie sollten neben der Sicherung des Archivguts vorrangig deutsche oder vermeintlich deutsche Archivalien ausfindig machen und zur Verlagerung nach Deutschland vorbereiten und Forschungen zu deutschen Einflüssen in Polen fördern, um deutsche Gebietsansprüche etc. wissenschaftlich zu untermauern.
Für die Archivare stellte ihr 'Osteinsatz' ein Karrieresprung dar: Sie gelangten umstandslos in Führungspositionen, die ihnen im Deutschen Reich auf Jahre hinaus verbaut gewesen wären. Nach dem Krieg gelang es einigen von ihnen, nachdem sie ihre frühere Tätigkeit erfolgreich als unpolitisch umgedeutet hatten, ihre Karrieren fortzusetzen und zu krönen. Georg Winter etwa avancierte 1952 zum Gründungsdirektor des Bundesarchivs, andere kamen im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes oder im Bundespresseamt unter.
Auf einer breiten Quellenbasis vermittelt Lehr ein anschauliches Bild einer Facette deutscher Besatzungspolitik 'im Osten', von den deutschen Archivaren, ihrem Verhältnis zu den polnischen und ukrainischen Kollegen sowie von ihren Karrieren über die Systemwechsel 1933 und 1945 hinweg. Dabei räumt er mit der notwendigen Differenzierung mit Legenden wie der des unpolitischen und selbstlosen Schutzes von Archivalien auf. Er liefert ein überzeugendes Porträt einer kleinen Gruppe deutscher Besatzungsfunktionäre, ihrer biographischen, wissenschaftlichen und politischen Hintergründe, ohne in Schwarz-Weiß-Malereien zu verfallen.