Regelmäßig kommen Gesamtdarstellungen über die NS-Diktatur auf den Markt, die von neuem erzählen, was schon hinreichend bekannt scheint. Das Dickicht der umfangreichen und hoch spezialisierten NS- und Holocaustforschung, die selbst für Experten kaum noch zu überschauen ist, erreicht trotz aller medialen Präsenz und aufgeregter Debatten das breite Publikum nicht ' und kann es wohl auch nicht erreichen. Hier sind Überblicksdarstellungen vonnöten, die für breite Kreise historisch Interessierter Schneisen schlagen.
Einen solchen ehrgeizigen ' und gut lesbaren ' Versuch hat Ernst Piper auf lediglich 350 Seiten unternommen. Anders als die meisten seiner Vorgänger beschränkt er sich nicht auf die zwölf Jahre von 1933 bis 1945. Da Piper kein Buch über die NS-Diktatur, sondern über den Nationalsozialismus geschrieben hat, ist der behandelte Zeitraum weiter: Er beginnt seine Darstellung bereits 1919 mit der Gründung der Deutschen Arbeiterpartei, aus der wenig später die NSDAP hervorging. Den Schlusspunkt setzt Piper nicht 1945, da die NS-Ideologie mit dem Untergang des 'Dritten Reichs' nicht spurlos verschwunden ist und da die NS-Diktatur eine lange Nachgeschichte bis in unsere Tage hat.
Anschaulich beschreibt Piper die Anfänge des organisierten Nationalsozialismus, dessen konstitutives Element von Beginn an ein radikaler Antisemitismus war, der auch aggressiv nach außen getragen wurde. Dabei legt er großes Gewicht auf den biographischen Hintergrund der Akteure, anfangs fast ausnahmslos politische Abenteurer und Hasardeure. Ihre Biographien sind jeweils in den Text integriert, ohne den Lesefluss zu stören. Da er ganz auf Fußnoten verzichtet, ist bei Zitaten aber nicht immer klar, von wem diese stammen.
Breiten Raum ' rund ein Drittel des Buches ' nimmt die Darstellung des Aufstiegs der NSDAP vor 1933 ein. Ausführlich informiert Piper über die Organisationsvielfalt der NSDAP, ihre Propaganda mittels Presse, Parteitagen sowie moderne Wahlkampfmethoden; schließlich auch über die Durchsetzung des 'legalistischen' Kurses innerhalb der Partei. Der Prozess, der über die Eroberung der Straße zur Machtübernahme führte, war, das wird hier deutlich, kein unausweichlicher und nicht ausschließlich Verführungstechniken der Propaganda geschuldet, sondern in hohem Maße auf das Versagen der Eliten zurückzuführen.
Einmal an den Schalthebeln der Macht, fiel es den Nationalsozialisten leicht, diese Eliten für sich einzubinden, zu neutralisieren oder beiseite zu schieben und die 'Volksgemeinschaft' zu formieren. Den Schwerpunkt legt Piper bei der Darstellung dieses Prozesses auf den Exklusionsmechanismen, die Bekämpfung der politischen Gegner, Flucht, Vertreibung und Emigration all jener, die aus politischen oder aber aus 'rassischen' Gründen der volksbiologischen Utopie des Nationalsozialismus im Wege standen. Die Integrationsmechanismen aber, die die Herrschaft des Nationalsozialismus für so viele attraktiv machten, vernachlässigt Piper leider sträflich.
Es gelingt ihm leider auch nicht, das Versprechen des Klappentextes einzulösen, demzufolge das Schicksal der Opfer sein Leitmotiv sei. Die Beschreibung der antijüdischen Politik vor 1939 ist beschränkt auf die Boykott-Aktion 1933, die Nürnberger Rassegesetze 1935 und die Reichskristallnacht 1938. Als Akteure treten die Opfer hier nicht in Erscheinung. Das ändert sich erst im Kapitel über die Volksgemeinschaft im Krieg etwas.
In der Betrachtung der Entwicklung nach 1945 geht es Piper leider nicht um das Fortleben der NS-Ideologie in altem oder neuem Gewand, sondern fast ausschließlich um die Auseinandersetzungen mit der Schuld in Politik, Medien und Wissenschaft. Abgerundet wird die Darstellung von einer Zeittafel von 1918 bis 2005 sowie von Hinweisen für die weitere Lektüre. Letztere sind allerdings dürftig und weisen eklatante Fehlstellen auf: Außer Wehlers Gesellschaftsgeschichte wird nicht eine andere Gesamtdarstellung erwähnt, Meilensteine der Täterforschung von Ulrich Herbert oder Michael Wildt fehlen ebenso.
Piper bietet eine gut lesbare, aber in weiten Teilen konventionelle Darstellung des Nationalsozialismus, lässt aber die Potentiale, die der von ihm gewählte Zeitrahmen geboten hätte, weitgehend ungenutzt.