Nach Robert Seidels Buch über deutsche Besatzungspolitik im Distrikt Radom im Generalgouvernement liegt nun mit Jacek Młynarczyks Studie über den Judenmord im Distrikt Radom eine zweite Arbeit zu diesem Thema vor. Anders als Seidel beschränkt sich Młynarczyk auf die Verfolgung und Ermordung der Juden, behandelt diese aber in breiterem Rahmen. Die auf einer Dissertation aus dem Jahre 2004 gründende Veröffentlichung reiht sich ein in eine mittlerweile stark angewachsene Zahl empirischer Regionalstudien zum Judenmord im deutsch besetzten Mittel- und Osteuropa.
Młynarczyk folgt aber nicht der Perspektivverengung vieler vorangegangener Regionalstudien, indem er sich auf die Betrachtung der Täterseite beschränkt, obwohl diese verständlicherweise den Schwerpunkt ausmacht. Ein großes Verdienst seiner Arbeit ist die Erweiterung des Blicks auf vielfach vernachlässigte Aspekte, die integraler Bestandteil des Gesamtgeschehens waren. In seiner Untersuchung geht er auf die jüdische Bevölkerung nicht allein als Gegenstand deutscher Politik ein. Er widmet sich auch ihrer inneren Entwicklung und ihren Reaktionen auf die einzelnen Etappen nationalsozialistischer Verfolgungs- und Vernichtungspolitik und ihren Handlungsoptionen. Das steht nicht etwa lose neben der Analyse deutscher Maßnahmen und Verfolgungsmechanismen, sondern ist eng an diese gekoppelt.
Damit verbunden ist die Untersuchung der Haltung, die die nichtjüdische polnische Bevölkerung zur Diskriminierung und Vernichtung der Juden einnahm, sowie das nicht erst unter deutscher Besatzung schwierige und konfliktträchtige polnisch-jüdische Verhältnis. Da viele Verwerfungen ihre Ursachen auch in Entwicklungen während der Zwischenkriegszeit hatten, hat Młynarczyk dem Hauptteil seines Buches einleitende Kapitel hierzu vorangestellt, in denen er den Leser über die jüdische Bevölkerung und das polnisch-jüdische Verhältnis in der Region kenntnisreich ins Bild setzt.
Den Schwerpunkt macht die Darstellung der schrittweisen Entrechtung der Juden aus, das Zusammenpferchen in Ghettos, ihre wirtschaftliche Ausbeutung und schließlich brutale Ermordung in Treblinka oder 'vor Ort'. Młynarczyk führt gekonnt durch das Geflecht der beteiligten Institutionen von SS und Polizei, Zivilverwaltung, Wehrmacht und Industrie, benennt die Verantwortlichen aller Ebenen und gewichtet ihre jeweilige Rolle im arbeitsteilig organisierten Mordprozess. In allen Teilen des Buches bedient er sich einer wohl abgewogenen Argumentation und ist darum bemüht, den Horizont der verschiedenen Akteure in ihrer jeweiligen Situation im Blick zu behalten.
Młynarczyk schöpft aus einer Vielzahl verschiedenster Quellen aus polnischen und deutschen Archiven. Er beschränkt sich nicht auf die Auswertung der amtlichen Überlieferung der deutschen Besatzungsapparate oder der Ermittlungsverfahren der Nachkriegszeit, sondern hat ebenso die polnische Untergrundpresse, Dokumente der jüdischen 'Selbstverwaltung' und schließlich Tagebücher und Erinnerungsberichte herangezogen. Als Ergebnis hält der Leser eine äußerst gelungene moderne Studie über den Judenmord in den Händen, die alle wichtigen Aspekte und Akteure dicht und umfassend behandelt und in dem inzwischen viel bearbeiteten Bereich der Holocaustforschung durchaus noch Neues und Erhellendes mitzuteilen weiß. Schließlich ist die Arbeit noch vorzüglich geschrieben, was umso mehr hervorzuheben ist, als Młynarczyk kein deutscher Muttersprachler ist.