NS-Täter aus interdisziplinärer Perspektive

Der umfangreiche Sammelband über NS-Täter geht auf eine Tagung zurück, die die Soziologin Helgard Kramer im April 2005 gemeinsam mit der Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch, dem Theologen Rainer Kampling, dem Zentrum für Antisemitismusforschung sowie dem Fritz-Bauer-Institut veranstaltet hat. In rund 20 Beiträgen nähern sich Forscher verschiedener Disziplinen den NS-Tätern, aber nicht nur diesen. Allerdings, das sei hier vorweggenommen, erschöpft sich darin leider auch schon das 'Interdisziplinäre', denn die Autoren verbleiben mit ihren Aufsätzen jeweils im Rahmen ihrer Forschungsdisziplin. Dass diese nun gemeinsam zwischen zwei Buchdeckel gepresst werden, schafft noch keine 'interdisziplinäre Perspektive', denn sie bleiben weitgehend unverbunden nebeneinander stehen. Treffender müsste es da schon heißen: 'NS-Täter aus der Perspektive verschiedener Disziplinen'.
Das Spektrum der behandelten Tätergruppen reicht von KZ-Ärzten, deren Untersuchung den Schwerpunkt ausmacht, über untere NSDAP-Funktionäre und KZ-Aufseherinnen bis hin zu Wehrmachtshelferinnen. Bei letzteren stellt sich allerdings die Frage, ob ein Band über Täter der richtige Ort ist. Weitere Beiträge befassen sich mit sozialpsychologischen Erklärungsansätzen für Täterschaften im Holocaust, mit medialen Täter-Inszenierungen am Beispiel des Speer-Mythos oder mit den Biographien verschiedener Freikorpskämpfer. Gerade diese Untersuchung zeigt, dass eine geradlinige Entwicklung von der sogenannten 'Kriegsjugendgeneration', von denen sich viele in Freikorps engagierten, zum Holocaust nicht ohne weiteres zu konstruieren ist. Das ist umso erfreulicher, als es Tendenzen in der Täterforschung gibt, regelrechte Täter-Modelle oder Steckbriefe zu entwickeln, anhand derer leicht zu trennen wäre in Täter und Nicht-Täter. Diese Tendenz scheint bisweilen in dem ansonsten instruktiven Aufsatz der Herausgeberin über Tätertypologien durch.
Auch wenn der Band überschrieben ist mit 'NS-Täter', kommen auch ' was zunächst überrascht, aber doch erfreulich ist ' die Opfer zur Sprache, und das gleich zu Beginn in den ersten Beiträgen, die etwa die Trauma-Tradierung Überlebender oder die Frage der Vergebung seitens der Opfer in den Blick nehmen. Die Qualität der einzelnen Aufsätze geht allerdings gerade hier leider sehr weit auseinander. Benno Müller-Hill etwa befasst sich mit dem jüdischen Arzt Dr. Maximilian Samuel, der als über Sechzigjähriger nach Auschwitz deportiert wurde und dort als Gynäkologe zunächst den SS-Ärzten zur Hand gehen musste, bevor er schließlich in Birkenau getötet wurde. Sehr knapp schildert Müller-Hill das üble Bild, das Hermann Langbein und darauf gestützt auch Robert Jay Lifton von Samuel gezeichnet haben. Müller-Hill hat Anfang 2001 eine Anzeige in Köln, wo Dr. Samuel praktiziert hatte, geschaltet, um Leute ausfindig zu machen, die sich an ihn erinnern können. Das Ergebnis breitet er unkommentiert auf neun Seiten aus, indem er die ' ausnahmslos positiven ' Äußerungen über Dr. Samuel, die auf die Anzeige eingegangen sind, zitiert. In einem abschließenden Absatz erfährt der Leser nur, dass Müller-Hill Samuel daher für einen guten Menschen hält. Nur en passant kommt die entscheidende Information: In zwei Fällen sei, so Müller-Hill, ohne das näher auszuführen, dokumentiert, dass Dr. Samuel auch in Auschwitz geholfen und Operationen sabotiert habe.
Trotz solcher Ausreißer gibt der Band einen guten Einblick in Möglichkeiten, aber auch Gefahren der Täterforschung, bildet allerdings ' naturgemäß ' nur einen Ausschnitt davon ab. Die in den letzten Jahren stark in den Fokus der Forschung geratenen Täter aus den Reihen von Polizei und Reichssicherheitshauptamt sucht man ebenso vergeblich wie Funktionäre der Besatzungsverwaltungen, Kreisleiter der NSDAP und viele mehr. Das ernsthaft zu kritisieren, wäre vermessen; es wiegt auch nicht so schwer wie der Mangel an Untersuchungen zur Rolle von Brüchen und Kontinuitäten über die Zäsuren von 1933 und vor allem auch über 1945 hinweg. Hier hätten die nicht vertretenen Forschungsergebnisse der letzten Jahre zu den aufgelisteten Tätergruppen einen wichtigen Beitrag leisten können.