Wokół pogromu kieleckiego

Etwa 240.000 Juden, die Verfolgung und Vernichtung überlebt hatten oder aus der Sowjetunion zurückgekehrt waren, lebten im Juni 1946 in Polen. Für viele von ihnen sollte Polen lediglich eine Zwischenstation vornehmlich auf dem Weg nach Palästina sein. Ende 1947 lebten nur noch etwa 80.000 Juden in Polen. Der gewaltige Exodus hatte seine Gründe nicht ausschließlich in länger gehegten Auswanderungsplänen, sondern wurde auch durch antijüdische Gewalt in Nachkriegspolen verursacht und beschleunigt.
Nach der Befreiung Polens von der deutschen Gewaltherrschaft kam das Land nicht zur Ruhe. Bürgerkriegsähnliche Zustände, Kämpfe zwischen weiterhin aktiven antikommunistischen Widerstandsorganisationen und Verbänden der sich etablierenden kommunistischen Machthaber beherrschten das Land. In dieser Situation kam der polnische Antisemitismus zu neuer Blüte. Profiteure der Vernichtungspolitik weigerten sich, ihren neu 'erworbenen' Besitz den heimkehrenden Überlebenden zurückzugeben. Zu den alten, religiös oder ökonomisch motivierten antisemitischen Einstellungen kam das Stereotyp von der Judäokommune, der jüdisch-bolschewistischen Verschwörung, nach der die ungeliebten Kommunisten von Juden angeführt und unterwandert seien. In dieser gewaltaufgeladenen Situation waren die dem Mord entronnenen Juden nur selten willkommen und konnten nicht die langersehnte Ruhe finden. Es kam zu zahlreichen antisemitischen Ausschreitungen und Pogromen im ganzen Land, denen bis 1947 bis zu 2000 Juden zum Opfer fielen. Trauriger Höhepunkt dieser Gewalttaten war der Pogrom von Kielce Anfang Juli 1946.
Auslöser für die entfesselte Gewalt, an deren Ende 42 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet waren, war die Behauptung eines polnischen Jungen, zwei Tage im Haus des Jüdischen Komitees misshandelt worden zu sein. Diese als Lüge entlarvte Geschichte breitete sich schnell aus, erhitzte die Gemüter und entlud sich in hemmungslose Gewalt. Eilig durchgeführte Untersuchungen führten nur wenige Tage nach dem Ereignis zur Verhaftung und schließlich Hinrichtung von neun Tätern. Mit diesem raschen Vorgehen wollten die Behörden ein Signal an die erschütterte Weltöffentlichkeit aussenden und der Bevölkerung zur Warnung ein Exempel statuieren.
Den Vorgängen in Kielce widmet sich nun ein Quellenband, herausgegeben vom Institut für Nationales Gedenken, dem polnischen Äquivalent zur Zentralen Stelle in Ludwigsburg und der Birthler-Behörde. In ihm sind auf über 400 Seiten gut 90 Dokumente abgedruckt, von denen etwa ein Viertel zeitgenössische Quellen und Vernehmungsprotokolle aus dem Jahr 1946 sind, vor allem Berichte des amerikanischen Botschafters in Warschau und Berichte aus dem polnischen Sicherheitsapparat. Den Großteil machen allerdings Dokumente aus, die im Zuge der von 1991 bis 2004 erneut geführten Ermittlungen angefallen sind, darunter u.a. Vernehmungen des Mannes, dessen Behauptungen als Junge die Ereignisse erst ins Rollen gebracht hatten.
Den Quellen vorangestellt sind informative Aufsätze, die über die historischen Hintergründe und Kontexte informieren, so etwa über das polnisch-jüdische Verhältnis 1944 bis 1946, über die Haltung der katholischen Kirche sowie über die Auseinandersetzungen über den Pogrom von Kielce in Gesellschaft und Forschung. Zusammen mit den edierten Quellen erhält man so ein umfassendes Bild von den Ereignissen selbst, aber auch vom gesellschaftlichen, politischen und schließlich juristischen Umgang mit ihnen. Zumindest die Aufsätze liegen auch in englischer Übersetzung vor, was nicht zuletzt an der internationalen Aufmerksamkeit liegen dürfte, die der Pogrom von Kielce anlässlich des 60. Jahrestages 2006 und anlässlich des neuen, nahezu zeitgleich erschienenen Buches von Jan Tomasz Gross erhalten hat.