Krieg und Verbrechen
Situation und Intention: Fallbeispiele

Der von Timm C. Richter herausgegebene Sammelband geht auf eine Tagung vorwiegend junger Historikerinnen und Historiker in der Münsteraner Villa ten Hompel im Sommer 2005 zurück, die sich in ihren Vorträgen mit dem Verhältnis von Situation und Intention im Hinblick auf 'Kriegsverbrechen' im 20. Jahrhundert beschäftigten. Anders als bei der Tagung verzichtet Richter im Titel des Sammelbandes zu Recht auf den eigentlich so unpassenden und tendenziell verharmlosenden Begriff der 'Kriegsverbrechen', unter den sich nur wenige der vorgestellten Fallbeispiele fassen ließen. In seiner Einleitung weist Richter eigens auf die Fallstricke des Begriffs hin, betont aber, dass eine Ausblendung der enormen situativen Bedeutung des Kontexts Krieg einer kritischen Aufarbeitung des Völkermords auch nicht gerecht würde.
Die überwiegende Mehrheit der Aufsätze kreist um Verbrechen, die während des Zweiten Weltkriegs in Europa verübt wurden. Lediglich Jens Thiel geht zeitlich weiter zurück, indem er Zwangsarbeit und Deportation in Belgien im Ersten Weltkrieg in den Fokus rückt. Einen Blick über die Grenzen Europas hinaus bietet Chungki Songs Untersuchung koreanischer Wachmannschaften in japanischen Kriegsgefangenenlagern.
Der Band ist in fünf Abschnitte gegliedert. Der erste widmet sich der 'Anatomie von Kriegsverbrechen' anhand von Beispielen aus Frankreich, Kreta und Litauen. Der zweite steht unter der Überschrift 'Kriegsverbrechen in vergleichender Perspektive', die allerdings weitgehend ein frommer Wunsch bleibt. Klaus-Jochen Arnolds allgemeinem Plädoyer für den Vergleich als Königsweg der Geschichtsforschung folgen leider nur drei Autoren, darunter die beiden anderen Verfasser dieses Abschnitts. Martin Cüppers führt am Beispiel des 1. und 2. Regiments der SS-Kavallerie und ihrer Beteiligung an der Ermordung der sowjetischen Juden vor Augen, wie unterschiedlich radikal gleiche Befehle von zwei verschiedenen Einheiten ausgelegt werden konnten und welche Folgen das hatte. Frank Grelka unternimmt einen diachronen Vergleich, indem er die Verschleierung deutscher Kriegsziele gegenüber ukrainischen politischen Organisationen 1918 und 1941 vergleichend analysiert.
Der dritte, mit 'Täter' betitelte Abschnitt versammelt neben dem Aufsatz über koreanische Kriegsverbrecher zwei Beiträge über SS-Institutionen bzw. SS-Männer in Norwegen und Warschau, über sowjetische Partisanen sowie über die ukrainische Lokalverwaltung. Dem letztlich zentralen Akteur, wenn es um Kriegsverbrechen geht, hier der Wehrmacht, widmen sich im vierten Abschnitt fünf Fallbeispiele. Jochen Böhler bringt hier den in der westlichen Forschung lange Zeit sträflich vernachlässigten eigentlichen Beginn des deutschen Vernichtungskriegs zur Sprache ' den Überfall auf Polen und die Verbrechen der Wehrmacht in Polen. Im Fokus der übrigen vier Beiträge stehen wiederum Verbrechen der Wehrmacht in den deutsch besetzten sowjetischen Gebieten, darunter Jörn Hasenclevers vergleichende Untersuchung der Befehlshaber der rückwärtigen Heeresgebiete (Berücks). Diese legten mit ihren Maßnahmen zur Entrechtung und Konzentration der Juden die Grundlagen für den systematischen Judenmord durch SS und Polizei. Allerdings unterschieden sie sich durchaus in ihrer Reaktion auf die Umsetzung der Judenvernichtung ebenso wie im Ausschöpfen der Handlungsspielräume, was Hasenclever sowohl auf intentionale Faktoren als auch auf situative Gegebenheiten, aber auch auf biographische Dispositionen zurückführt.
Dankenswerterweise schließt der Sammelband mit einer Gruppe von Aufsätzen, die 'Kriegsverbrechen im Fokus von Recht und Justiz' behandeln. Dies geschieht zum einen anhand konkreter Beispiele wie eines der Nürnberger Nachfolgeprozesse, hier zum Rasse- und Siedlungshauptamt, oder von deutschbaltischen SS-Führern nach 1945. Thomas Speckmann schlägt explizit die Brücke in die Gegenwart, indem er das Verhältnis von Kombattanten und Nichtkombattanten in bewaffneten Konflikten der Gegenwart untersucht. Mit seinem Abriss über die internationale Debatte über die Ahndung von Kriegsverbrechen von 1919 bis 1945 liefert Daniel Marc Segesser den zeitgenössischen Diskussionsstand.
Von dem verdienstvollen Band gehen wichtige Anregungen aus, und er lässt gespannt sein auf die in Arbeit befindlichen oder kurz vor dem Erscheinen stehenden Monographien von vielen der Verfasser. Zu guter Letzt sollte er gerade durch die nicht vertretenen Fallbeispiele außerhalb von Europas Grenzen oder abseits des deutschen Vernichtungskrieges und durch das weitgehend nicht eingelöste Plädoyer für eine vergleichende Perspektive der Forschung wichtige Impulse geben.