Der lange Schatten des Leviathan
Hobbes' politische Philosophie nach 350 Jahren

Natürlich ist Hobbes' politische Philosophie auch nach 350 Jahren nichts, über das es Einigkeit geben könnte. Dies dokumentiert der vorgestellte Band bereits in seinem Ansatz: schon indem die einzelnen Beiträge die philosophische Relevanz und die zeitgenössische philosophische Rezeption der Lehre Hobbes' ins Zentrum ihrer Analysen stellen, setzen sie, wie der Herausgeber Hüning ausdrücklich betont, einen 'Kontrapunkt' (S. 5) gegen die vor allem in politikwissenschaftlichen und juristischen Kreisen übliche, Carl Schmitt verpflichtete Lesart der Philosophie des Thomas Hobbes.
Neben der Entstehungsgeschichte (Bernd Ludwig über einige Wandlungen in Hobbes' Politischer Philosophie) und der Rezeption des 'Leviathan' (Beiträge von Werner Euler zu Spinoza, Merio Scattola zur deutschen Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts und Klaus-Gert Lutterbeck zu den Naturzustandstheorien im vorkantischen Naturrecht und zu deren Kritik durch Rousseau) werden Kernfragen der Deutung des 'Leviathan' behandelt, wobei es im einzelnen um Anthropologie und Psychologie sowie natürlich um die Staatslehre sowie um die naturrechtlichen Grundlagen dieser Schrift geht.
In der ersten der genannten Sektionen erweist zunächst Frank Grunert in seinem Beitrag (Erinnerung und Gedächtnis in der Anthropologie des 'Leviathan'), daß in der Hobbes'schen Anthropologie 'Erinnerung (...) zu einer Basiskategorie des Denkens geworden' (S. 53) ist. Danach erörtert Gideon Stiening (Psychologie und Handlungstheorie im 'Leviathan') das sog. 'Strauss-Problem', wonach die 'Psychologie keineswegs die notwendige Voraussetzung der Hobbes'schen Politik' (S. 61) ist und kommt zu dem Schluß, daß bei Hobbes von einem harmonischen 'Ergänzungsverhältnis von Empirismus und Rationalismus' (S. 105) keine Rede sein kann.
Burkhard Tuschling (Recht? Gerechtigkeit? Cicero, Karneades, Hobbes pro et contra ius naturae) eröffnet die Auseinandersetzung mit den naturrechtlichen Grundlagen des 'Leviathan'. Er betont vor allem Hobbes' Leistung im Kontext der Entwicklung einer Theorie freier Subjektivität, die uns vor die Aufgabe stellt zu klären, wie die 'Identität des freien Willens eines jeden mit dem allgemeinen und gesetzgebenden Willen, der Gesamtheit, des Staates' (S. 142) zu begreifen ist. Nach einem kurzen, aber durchaus instruktiven Diskussionbeitrag Manfred Baums (Rationalität im Naturzustand) zeigt Jeffrey Edwards (Natural Right and Acquisition in Grotius, Selden, and Hobbes), daß und wie 'Hobbes' Leviathan breaks decisively with one of the key tenets of traditional natural-law theories of property ' namely: the postulate of an original community of things' (S. 175).
Mit Peter Schröders Beitrag (Die Heilige Schrift in Hobbes' 'Leviathan' ' Strategien zur Begründung staatlicher Herrschaft) beginnt im vorliegenden Band die Untersuchung der Staatslehre des 'Leviathan'. Die selbst für den Gläubigen vergleichsweise unbequeme Lage bei Hobbes wird deutlich, wenn Schröder rekonstruiert, daß dort auch für das jenseitige Leben 'der Gehorsam gegenüber dem Souverän eine conditio sine qua non' (S. 198) ist ' und daß umgekehrt aus der Bibel weder Vorwand noch Rechtfertigung für diesseitigen Ungehorsam zu ziehen ist.
Im Anschluß hält Franz Hespe (Die Erschaffung des Leviathan) fest, daß im Zuge der Autorisierung bei Hobbes ein neues Recht entsteht: durch die Übertragung des Rechtes, sich selbst zu regieren, auf einen Souverän (mit der Folge, daß man dessen Taten als durch eigenen Willen geschehen(d) anerkennt) wird es erst möglich, die 'autoritas als legitime Rechtsgewalt von der bloßen Gewaltausübung zu unterscheiden' (S. 234).
Dieter Hünings Beitrag (Hobbes' Begründung des Strafrechts) schließt die letzte der sich den inneren Problemen des 'Leviathan' widmenden Sektionen mit Überlegungen zu einem Themenkreis ab, der nicht gerade oft Gegenstand der Forschung ist: der Strafrechtskonzeption des Thomas Hobbes. Hüning zufolge liegt hier ein (schon von Pufendorf gesehener) Konflikt zwischen Souvernitätskonzeption und Strafrechtsbegründung (bzw. von natürlichem und positivem Recht) insofern vor, als das, was als Problem der eigenen Bestrafung bezeichnet wird, ungelöst bleibt: die Strafgewalt des Souveräns steht (soweit sie jedenfalls die Selbsterhaltung des Täters tangiert) bei Hobbes 'im durchgängigen Widerspruch mit der Unverzichtbarkeit des Rechts auf Selbsterhaltung' (S. 266).
Daß der lange Schatten des Leviathan noch auf uns heute fällt, daß also die Hobbes'sche Theorie nach wie vor zu einiger Deutungsarbeit Anlaß und Gelegenheit gibt, dokumentiert der von Hüning vorgelegte Band vorzüglich. Es ist ihm zu wünschen, daß er ' ganz im Sinne des angesprochenen Kontrapunktes ' auch in jene Kreise hineinwirkt, die den hier vorgelegten philosophischen Perspektiven auf Hobbes normalerweise weniger aufgeschlossen gegenüberstehen.