"Kollaboration" in Nordosteuropa
Erscheinungsformen und Deutungen im 20. Jahrhundert

Nordosteuropa war im vergangenen Jahrhundert als 'Schlachtfeld der Diktatoren' (Dietrich Beyrau) Schauplatz verschiedener, aufeinander folgender Besatzungsregime. Dabei waren die besetzten, meist multiethnischen Gesellschaften nie bloßes Objekt der Okkupationspolitik. In der komplexen Beziehungsgeschichte zwischen Besatzern und Besetzten bestanden vielfältige Handlungsmöglichkeiten oder Handlungszwänge für die Besiegten. Der vorliegende Band, Auftakt einer neuen Publikationsreihe des renommierten Nordost-Instituts, widmet sich dem wohl brisantesten Thema aus diesem Beziehungsgeflecht, dem der Kollaboration. Die mehr als 25 Beiträge gehen auf eine Konferenz zurück, die 2003 stattfand. Vorangestellt sind drei Aufsätze unter der Rubrik 'Grundlagen', die begriffliche und methodische Probleme diskutieren. Dem folgen regionale Fallstudien mit dem Schwerpunkt auf Litauen, Polen und Rußland bzw. der Sowjetunion, aber auch Lettland und die Tschechoslowakei werden in je einem Beitrag berücksichtigt.

Fast alle Autoren werden dem Untertitel gerecht und stellen nicht nur die historischen Erscheinungsformen des Phänomens Kollaboration dar, sondern auch die Deutungen und Auseinandersetzungen darüber. Verdrängung, politische Instrumentalisierung, Selbstmythologisierungen behinderten oder beeinflußten die Forschung sowie den gesellschaftlichen Umgang mit diesem Thema nicht nur während der kommunistischen Herrschaft. Diese Mechanismen und Tabus lasten bis heute auf der Erforschung und Diskussion der Kollaboration.
Das zentrale Problem für die Forschung liegt bereits im Begriff selbst, denn dieser fungierte immer auch als politisch-moralischer Kampfbegriff. Zudem werden unter dem Rubrum 'Kollaboration' vielfältige Handlungen und Einstellungen der verschiedensten Akteure zu unterschiedlichen Zeiten subsumiert. Arbeitsdefinitionen und Differenzierungen bieten die Grundlagen-Beiträge von Werner Röhr und Gerhard Hirschfeld, ohne, wie könnte es anders sein, eine befriedigende allgemeingültige und unumstrittene Definition zu entwickeln. Auch die anderen Autoren diskutieren in ihren differenzierten Beiträgen den Kollaborationsbegriff allgemein und im jeweils spezifischen Kontext der Fallstudien.
Mehrere Verfasser verfolgen den Ansatz, den Kollaborationsbegriff von seinem Entstehungskontext der nationalsozialistischen Besatzungsregime in Europa zu lösen und auf andere Themenfelder auszuweiten. Dabei nehmen sie nicht nur, was nahe liegt, sowjetische Okkupationen in den Blick, sondern etwa die deutsche Besatzung im Ersten Weltkrieg oder den Russischen Bürgerkrieg. Gerade die gewählte Region Nordosteuropa bietet sich für derartige Unterfangen und für eine vergleichende Perspektive geradezu an. Allerdings hätte man sich gerade mehr vergleichend ausgerichtete empirische Beiträge gewünscht, etwa zur Kollaboration in Ostpolen unter sowjetischer und deutscher Besatzung.
Die Beiträge bewegen sich fast ausnahmslos auf hohem Niveau und nähern sich behutsam dem brisanten Phänomen der Kollaboration in der wechselvollen Geschichte einer umkämpften Region. Gerade die Verzahnung von historischen Erscheinungsformen der Kollaboration mit den Deutungen und Konflikten macht den besonderen Reiz dieses verdienstvollen Bandes aus. Auch wenn die Verfasser manche Schneise geschlagen haben, zeigt sich, daß immer noch ein immenses Untersuchungsfeld auf die Bearbeitung durch die Historiker wartet. Aber nicht nur Historiker sind hier gefordert. Interdisziplinäre Forschungsprojekte wären höchst wünschenswert.