Deutsche Besatzungspolitik in Polen
Der Distrikt Radom 1939-1945

Nach den Monographien von Dieter Pohl und Bogdan Musial zum Distrikt Lublin und den Arbeiten von Pohl und Thomas Sandkühler über den Distrikt Galizien liegt nun mit der Dissertation von Robert Seidel eine Studie zu einem dritten der fünf Distrikte des Generalgouvernements vor, dem Distrikt Radom. Seidels Buch hebt sich dadurch positiv von den anderen ab, daß er das Thema weiter faßt. Er beschränkt sich nicht auf die Verfolgung und Ermordung der Juden in der Region, sondern nimmt die gesamte Terror- und Vernichtungspolitik in den Blick, auch die gegen die polnische Bevölkerung gerichtete. Die Ausbeutung polnischer Arbeitskräfte und ihre Deportation ins Deutsche Reich sowie die Verfolgung und Ermordung der polnischen Führungsschicht und die brutale Bekämpfung des Widerstands nehmen daher einen breiten Raum ein. Andere wichtige Felder der deutschen Besatzungspolitik wie die Ausbeutung der Landwirtschaft oder die Schul- und Kulturpolitik bleiben allerdings ausgeblendet.
Seidel kann aus einem großen Quellenfundus aus deutschen und polnischen Archiven schöpfen. Dabei handelt es sich natürlich nicht, wie es leider vollmundig im Klappentext heißt, um alle in Deutschland und Polen zugänglichen Quellenbestände. Die weitverzweigte Dokumentation und Berichterstattung der polnischen Widerstandsgruppen sowie Akten der polnischen Gemeindeverwaltungen zum Beispiel bleiben weitgehend unberücksichtigt. Das tut der Qualität der Arbeit allerdings keinen Abbruch.
Im ersten Teil widmet er sich ausführlich dem deutschen Besatzungsapparat im Distrikt Radom. Den Aufbau, die personelle Besetzung, die Zuständigkeiten der zuweilen auch konkurrierenden Institutionen und die Handlungsspielräume der jeweiligen Amtsinhaber leuchtet er von der Spitze bis hinunter in die Kreise und Städte souverän aus und schafft damit die notwendigen Grundlagen für die zwei folgenden Teile seiner Arbeit. Nähere Ausführungen zu Herkunft, Ausbildung, Laufbahn und dergleichen der handelnden Personen beschränken sich allerdings auf die Spitze des Distrikts in Verwaltung und SS- und Polizeiapparat. Andere Personen, die Kreis- und Stadthauptleute zum Beispiel, bleiben hinsichtlich ihrer biographischen Hintergründe konturlos. Hier beschränkt sich Seidel auf wenige allgemeine Aussagen zu ihren Geburtsjahrgängen und ihren Mitgliedschaften in NS-Organisationen.
Die weithin in Vergessenheit geratene umfassende deutsche Raub- und Ausbeutungspolitik in Polen wird ausführlich im zweiten Teil analysiert. Die desaströsen Lebens- und Arbeitsbedingungen der polnischen Arbeiter im Distrikt Radom sowie die brutale Rekrutierung und Deportation von Zwangsarbeitern ins Reich werden dem deutschen Leser in dieser Form so zum ersten Mal eindringlich vor Augen geführt. Wünschenswert wären lediglich Vergleichszahlen hinsichtlich der Lebensmittelversorgung der deutschen Bevölkerung gewesen, um das Gefälle und die Hungerrationen besser einordnen zu können. Dennoch wird deutlich, wie ein ganzes Volk versklavt und seiner Ressourcen beraubt wurde. Ganze neun Prozent der Bevölkerung des Distrikts, rund 234.000 Menschen wurden vielfach in regelrechten Menschenjagden gefangen und nach Deutschland verschleppt. In einzelnen Kreisen wurden deutlich über zehn Prozent der nichtjüdischen Bevölkerung verschleppt. Im Lichte der von Seidel ausgebreiteten Zahlen und Fakten erhält die Diskussion um die Entschädigung von Zwangsarbeitern eine andere Dimension.
Im letzten und ausführlichsten Teil des Buches zeichnet Seidel die umfassende Verfolgung und Ermordung der Juden nach: Von den ersten Gewaltakten und Demütigungen unmittelbar nach dem deutschen Einmarsch über die wirtschaftliche Ausplünderung, die Zwangsarbeit, die Isolierung in Ghettos in nahezu jeder Kleinstadt bis hin zur systematischen Ermordung von rund 350.000 Juden. Hier behält er konsequent alle Ebenen im Blick und macht einmal mehr deutlich, daß die Täter nicht ausschließlich der SS und Polizei angehörten, sondern weite Kreise der Deutschen im Generalgouvernement ihren Anteil am Genozid hatten. Die gesamte Besatzungspolitik war, das zeigt Seidels Buch deutlich, nicht zentral von oben nach unten einheitlich geregelt. Besatzungspraxis und Besatzungsrealität wurden in erheblichem Maße von einzelnen Funktionären vor Ort bestimmt, die über enorme Handlungsspielräume verfügten und diese auch zu nutzen bereit waren, in der Regel in radikaler Auslegung.
Seidel gelingt es auf erfreulich knappem Raum ein eindringliches Bild von der deutschen Besatzungsherrschaft im Generalgouvernement anhand des Beispiels eines Distrikts zu zeichnen. Kurzum: Ein gutes und ein wichtiges Buch.