Deutsche, Juden, Völkermord
Der Holocaust als Geschichte und Gegenwart

Jürgen Matthäus vom United States Holocaust Memorial Museum in Washington und Klaus-Michael Mallmann von der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart versammeln in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband die Beiträge von 19 renommierten Wissenschaftlern, die das Verhältnis von Deutschen und Juden vor dem Hintergrund des Völkermords an den Juden in vielen verschiedenen Facetten ausleuchten. Der Band ist Konrad Kwiet, einem profilierten Vertreter der Zunft, zum 65. Geburtstag gewidmet. Die Themenvielfalt der Aufsätze bündeln die Herausgeber in drei Blöcke über Kontinuitäten und Zäsuren, Täter und Opfer sowie Wahrnehmungen und Wirkungen.
Entgegen dem Versprechen der Herausgeber handelt es sich bei den Beiträgen aber nicht ausnahmslos um Originalbeiträge im weiteren Sinne. Frank Bajohrs Aufsatz über den SS-Brigadeführer Erwin Ettl, der nach dem Krieg unter dem Namen Ernst Krüger bei der 'Zeit' reüssierte, war bereits über weite Passagen wortgleich in der 'Zeit' nachzulesen. Reinhard Rürups Beitrag über die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus basiert auf einem Vortrag auf dem Historikertag 2004 und Yehuda Bauers Fallstudien zum 'Tod des Schtetls' im früheren Ostpolen sind mit leichten Variationen aus einem früheren Sammelband schon bekannt. Das schmälert die Qualität der genannten Beiträge oder des gesamten Bandes aber in keiner Weise.
Yehuda Bauer gibt in seinem Forschungsbericht über die Reaktionen der heterogenen jüdischen Bevölkerung und über ihr Verhältnis zu ihren nichtjüdischen Nachbarn in den ostpolnischen Kleinstädten wichtige Impulse für die Forschung, indem er mehr offene Fragen aufwirft, als ein geschlossenes Bild der Vorgänge zu liefern. Hier sind noch eine Reihe von Mikrostudien über die Reaktionen der jüdischen Bevölkerung auf Verfolgung und Ermordung und das lokale ethnische Beziehungsgeflecht zu leisten, bevor sich belastbare Aussagen machen lassen.
Der Sammelband reiht, und das ist für eine Festschrift durchaus ungewöhnlich, echte Perlen der Holocaust-Forschung im weitesten Sinne auf. Echtes Neuland haben Klaus-Michael Mallmann und Martin Cüppers mit ihrem Aufsatz über ein Einsatzkommando der Sicherheitspolizei und des SD betreten, das im Sommer 1942 in Erwartung eines schnellen Vormarsches die Ermordung der Juden in Palästina vorbereitete und mit Hilfe arabischer Kollaborateure in die Tat umsetzen sollte. Das sorgte bereits in Presse und Fernsehen für Furore; eine vertiefende Monographie ist eben erschienen. Andere Autoren räumen in ihren Beiträgen der tatsächlichen Kollaboration einheimischer Bevölkerungen ebenfalls breiten Raum ein: Wolfgang Benz bietet einen tiefen Einblick in die Beteiligung von Teilen der Bevölkerung im Baltikum an der Ermordung der dortigen Bevölkerung und sucht nach Ursachen dafür. Christopher Browning widmet sich einem weithin vergessenen und vernachlässigten wichtigen Teil des Holocausts am Beispiel Polens: der regelrechten 'Jagd' auf versteckte Juden nach Liquidierung der Ghettos. Er stützt sich dabei nicht ausschließlich auf die spärliche deutsche Quellenüberlieferung, sondern bezieht die Zeugnisse Überlebender und von Beobachtern mit ein. Aus Sicht der geflohenen und versteckten Juden stellte die polnische Bevölkerung nicht selten eine größere Gefahr dar. Ein traditionell verankerter Antisemitismus, Habgier und auch Angst der Polen vor Repressionen der Deutschen steigerten die Denunziationsbereitschaft. Allen genannten Autoren gemeinsam ist, daß es ihnen natürlich nicht um eine Relativierung der deutschen Verantwortung, Lenkung und Durchführung des Genozids an den Juden geht, sondern um ein vollständiges und von Tabus befreites Bild der Ereignisse.
Im dritten Teil des Bandes über Wahrnehmungen und Wirkungen der Shoah widmen sich die Autoren der Nachgeschichte des Holocaust bis in die Gegenwart. In einem faszinierenden quellengesättigten Aufsatz untersucht Robert G. Waite den Wissensstand und die Berichterstattung über den Holocaust in der amerikanischen Presse von 1943 bis 1955. Trotz sich der schon während des Krieges immer mehr verdichtenden Informationen über die Ermordung der Juden und dem Bekanntwerden des vollen Ausmaßes nach Kriegsende blieb die Shoah in der Presseberichterstattung, wie auch in den alliierten Prozessen, marginal. Die Juden fanden meist nur als eine Opfergruppe von vielen Erwähnung. Andere Autoren widmen sich der Vergangenheitspolitik in der DDR am Beispiel eines späten Prozesses gegen den ehemaligen Leiter des Judenreferats der Gestapo Dresden (Beate Meyer) oder dem Schweigen, Wegsehen und Verfälschen von Akteuren der lokalen Erinnerungspolitik am Beispiel Flensburgs (Gerhard Paul).
Den meist vorzüglichen Beiträgen dieses wichtigen Bandes ist auf so knappem Raum kaum gerecht zu werden. Die hier ausdrücklich genannten Aufsätze stehen pars pro toto für die meisten anderen, die ungenannt bleiben. Eine Festschrift von dieser Qualität wird dem Jubilar in vollem Maße gerecht.