Im Laufe eines Jahrhunderts, so im Vorwort zur 10. Auflage des 'Gebhardt', sei dieser zum bedeutendsten Handbuch der deutschen Geschichte geworden. In ihm resümiere und reflektiere jede Historikergeneration seit dem ersten Erscheinen ' der Gymnasiallehrer Bruno Gebhardt hatte das ursprünglich zweibändige Werk für den Gebrauch in Schulen bestimmt ' den Stand der deutschen Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung.
So stellt man sich in der Tat ein deutsches Handbuch vor: eben grundsolide; am Anfang das Verzeichnis der Abkürzungen, dann rund 78 engzeilig und fortlaufend gedruckte Literaturangaben; auf die Lektüre wird mit sekundärliteraturträchtiger Schwere eingestimmt. Besonders der Laie erlebt dann aber eine angenehme, seine historische Neugier beflügelnde Überraschung (zumindest was diesen Band betrifft, der die Bundesrepublik Deutschland von 1949'1990 behandelt): Es handelt sich um eine übersichtliche, ja spannungsreiche und vor allem auch flüssig geschriebene Darstellung, die konkrete Phänomene auf Strukturen hin transparent macht und Begriffe mit Anschauungen verbindet; hinter strengem Druckbild zeigt sich essayistischer Schwung und auch die Bereitschaft des Verfassers Edgar Wolfrum, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg, mit eigenen Urteilen nicht zu sparen.
Kein anderer zeitgenössischer Staat dieser Erde sei so umfassend und so systematisch erforscht wie die Bundesrepublik. Um sich im Bergwerk der Fakten nicht zu verlieren, sind Leitperspektiven zur Orientierung eingezogen ' in ihrer Einfachheit überzeugender als eine mit zu viel Exkursen und Abweichungen überlastete Wegführung. Der Band gliedert sich in drei große Teile und setzt auf diese Weise die entscheidenden Zäsuren in der bundesrepublikanischen Geschichte: 'Das Gründungsjahrzehnt von 1949 bis 1959, die Ära neuer Dynamik und Liberalisierung von 1959/60 bis 1973, die Epoche neuer Probleme und der Globalisierung von 1974 bis 1990, die unverhofft mit der Wiedervereinigung endet. Im Vorspann der einzelnen Teile werden jeweils die großen Entwicklungen umrissen, Prozesse und Strukturen benannt und die allgemeinen Tendenzen knapp eingefangen. Innerhalb dieser drei großen chronologischen Teile finden sich dann jeweils drei systematische Kapitel: 1. die Innenpolitik, also Politik und Staat, das Institutionengefüge und die Institutionenentwicklung, die politischen und ökonomischen Konflikte und Entscheidungen, die Gesetzgebung, das Regierungshandeln und die Regierungswechsel; 2. die Außenpolitik, also das Problem von supranationaler Einbettung der Bundesrepublik einerseits und fortbestehender nationaler Ansprüche angesichts der offenen deutschen Frage andererseits sowie allgemein die Veränderungen im internationalen System, die Europäisierungs- und Globalisierungstendenzen, die weltwirtschaftlichen Verflechtungen, die sich wandelnden Konstellationen der offenen deutschen Frage; 3. die Sozialkultur, aIso der Zusammenhang von Gesellschaft und Kultur, die innere Demokratisierung und die neuen Belastungen, die sozialen Strukturwandlungen (z.B. Demographie und Zuwanderung, der Wertewandel, die lebensweltlichen und mentalen Umbrüche, allgemein die Lernprozesse, die Erfahrungen der Menschen.'
Drei Beziehungsgeflechte werden im Besonderen herausgestellt: Das Kontinuitätsproblem (das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart), das Verhältnis von innen und außen (von Fremdbestimmung und Autonomie), die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Bereichen (Staat und Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, Kultur und Sozialkultur). Als zentrale Begriffe finden Verwendung: Fortgesetzte Stabilisierung ' durchgreifende Pluralisierung ' wachsende Internationalisierung. Das mag für kritische Beobachter der 'Berliner Republik' zu optimistisch klingen; aber schließlich endet der Band 1990, in einem Augenblick, da die Vereinigung der so lange getrennten Deutschland einen großen Schub an historischem Optimismus bewirkte. Doch gibt der Autor (vor dem üppigen Anhang, u.a. mit aufschlußreichen Tabellen) indirekt eine mahnende Aufforderung mit auf den Weg: 'Die Regelung der internationalen Aspekte, der ,äußeren' Einheit, war ein erstaunlicher Erfolg. Nach 1990 ging es um nichts Geringeres als um die Neubildung der deutschen Nation. Viel schwerer wog deshalb, aber das war 1990 für viele noch nicht abzusehen oder wurde im (berechtigten) Hochgefühl ausgeblendet, die Last der 'inneren' Einheit einer Nation, die sich im Verlauf von 40 Jahren politisch, wirtschaftlich, kulturell und mental auseinander gelebt hatte.'