Was ist deutsch?
Wie die Deutschen wurden, was sie sind

Das Nachdenken über unsere nationalen und kulturellen Wurzeln hat Konjunktur: 'Was ist deutsch?' ist der Titel einer großen Ausstellung, die ab Juni 2006 im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg zu sehen sein wird. Diese Frage stellt auch der Anglist und Publizist Hans-Dieter Gelfert, der schon das 'typisch Englische' zu ergründen suchte. Im gleichnamigen Band geht es ihm allerdings nicht um nationale Identität, sondern Mentalität. 'Identität ist ein Gefühl der Zugehörigkeit; Mentalität hingegen umfaßt alle nationaltypischen Verhaltensmerkmale, die sich empirisch nachweisen lassen.' Freilich ' eine klare Trennungslinie läßt sich wohl zwischen 'der als Selbst erlebten inneren Einheit' (Identität) und der 'Geisteshaltung, Sinnesart, Einstellung einer Person oder Gruppe' (Mentalität) nicht treffen. Mit dem Untertitel 'Wie die Deutschen wurden, was sie sind' wird zudem eine kollektive Identität angesprochen, die auf gleichen oder ähnlichen Mentalitätsmustern basiert. Vorsicht ist jedoch angebracht: 'Jede Aussage über die Mentalität eines Volkes steht auf schwankendem Boden; denn für nahezu alles, was als nationaltypisch gilt, lassen sich Gegenbeispiele anführen. Selbst wenn man alle Bürger des betreffenden Volkes einzeln befragte und ihre Selbstcharakteristik statistisch auswertete, wäre man noch immer nicht sicher, ob sie wirklich so sind, wie sie sich einschätzen. Und doch ist beinahe jeder überzeugt, daß es nationale Eigentümlichkeiten des Verhaltens und der Wertsetzung gibt.'

Was sind nun diese nationalen Eigentümlichkeiten? Der Verfasser sucht sie innerhalb konventioneller Kategorien ausfindig zu machen: in der Philosophie, Kunst, Musik, Literatur, im Film, Stil, Humor, auch bei Flüchen. Was dabei herauskommt, ist fragwürdig: Kann man zum Beispiel auf rund fünf Buchseiten wirklich Fundiertes über das Charakteristische deutscher Literatur sagen? Und zwar sowohl was die Außen-, als auch was die Innenwirkung betrifft? Zuzustimmen ist, daß Heinrich Heine, zwar nicht als der einzige Dichter deutscher Sprache, wohl aber als ein herausragender, das Deutscheste an der deutschen Lyrik, nämlich den naiv-romantischen Volksliedton ins Ausland zu transportieren vermochte. 'Und es gelang ihm nur, weil er ein durch und durch urbaner Dichter war, der seine deutsch-romantischen Seifenblasen bis zum schönsten Schillern aufblies, um sie dann mit einem ironischen Nadelstich platzen zu lassen.' In der Innenwirkung jedoch führte dies dazu, daß das Bildungsbürgertum ob solcher Diskrepanz sich nicht mit ihm identifizierte. Ist nun die Unfähigkeit, das Miteinander/Ineinander von Gefühl und Ironie als eine grundmenschliche Empfindungsqualität zu erkennen und anzuerkennen, 'typisch deutsch' oder das Ergebnis einer ideologischen Manipulation durch die 'Agenturen' der Gesellschaft, wie sie seit dem 19. Jahrhundert den deutschen Geist pervertierten?

Der Band reduziert Komplexität, was man jeder knapp gehaltenen Darstellung zugestehen muß; doch gerät er dabei häufig in die Untiefen der Simplifikation; nichts gegen aphoristische Raffungen, doch müßten dabei die in abschließende Glieder einmündenden Gedankenketten mehr erkennbar sein. Immerhin ein Buch, das eine Fülle von Anregungen aufgrund konkreter Mutmaßungen bietet und damit zum Diskurs über deutsche Mentalitäten beiträgt.
Angesichts der enger begrenzten Thematik seiner 'Kleinen Geschichte deutscher Nationalsymbole nach 1945' ('Schwarz-Rot-Gold') kann Peter Reichel, Professor für die Historischen Grundlagen der Politik an der Universität  Hamburg, auf geistesgeschichtliche Spekulationen verzichten. Es geht nicht um Anmutungen wie 'Gemütlichkeit', 'Weltschmerz', 'Schutz und Trutz' und andere, sondern um Fakten wie Flaggen, Hymnen, den 17. Juni, den 20. Juli, den 8. Mai, um Denkmäler (Brandenburger Tor, Frankfurter Paulskirche, Berliner Reichstag etc.). Aber natürlich haben all diese Konkreta eine Metaebene: schließlich sind es Symbole nationaler Identität; sie machen den Staat sinnlich wahrnehmbar. Da es aber in Deutschland seit dem Prozeß der Nationwerdung keine stabile Kontinuität kollektiver Identität gab, sind auch die Sinnbilder in ihrer Aussagekraft ambivalent bzw. immer wieder umgewertet, abgewertet oder neu bestimmt worden. In der deutschen Nationalsymbolik 'spiegelt sich ein langer, wenig erfolgreicher Kampf um Freiheit, nationale Einheit und Demokratie wider ' mit Niederlagen, gescheiterten Revolutionen, Systembrüchen, Kriegen und Gewaltverbrechen. Hierzulande gab es immer wieder Hymnen- und Flaggenstreit und in einhundert Jahren gleich vier Flaggenwechsel! In der Auseinandersetzung um das Deutschlandlied und die deutsche Trikolore erfuhren die politischen Systemalternativen ihren wohl markantesten symbolischen Ausdruck: Schwarz-Rot-Gold und die dritte Strophe des Deutschlandliedes stehen für den demokratischen Staat, Schwarz-Weiß-Rot und die erste Strophe unserer Hymne für das autoritäre Gegenmodell.'
Haben nun lange, höchst widersprüchliche Erfahrungen dazu geführt, daß seit 1945 zunächst in Westdeutschland und ab 1990 im vereinten Deutschland ein denkender, bedachtsamer Umgang mit nationaler Symbolik und ihrer Verdinglichung stattfand?

Positiv bewertet Reichel zum Beispiel die durch Norman Foster vorgenommene Modernisierung des Berliner Reichstages; es habe sich gezeigt, daß mit diesem Bau, 'ohne die Last und den Ballast der Geschichte' für die Berliner Republik Staat zu machen sei. Vom neuen Kanzleramt wiederum gehe eine in Berlin bisher unbekannte, festlich-frivole Leichtigkeit staatlicher Repräsentationslust aus ' ein 'Spiel mit Licht und Raum, Schließung und Öffnung, Kante und Rundung'.

Gescheitert ist, nach Reichels Ansicht, der Versuch, mit der Umgestaltung der 'Neuen Wache' eine nationale Gedenkstätte für alle Toten der NS-Zeit zu schaffen. Und im Besonderen sei das Mahnmal für die Ermordung der europäischen Juden mißlungen. Mit Schuld daran hatte auch der fehlende Mut der Volksvertreter, dem zentralen Ort der Opfer einen zentralen Ort der Auseinandersetzung mit den verantwortlichen Akteuren der Gewaltverbrechen beizugeben.

Kompetent referiert der Autor die geschichtspolitischen Debatten der letzten Jahrzehnte, unter Beachtung ihrer häufig bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts zurückreichenden historischen Dimension. Das so entstandene Kompendium ist weit mehr als eine politologische Fachstudie, nämlich ein wichtiger Beitrag zur Frage: Was ist, was war, was wird (kann) deutsch sein? Das Resümee zum Kapitel 'Deutschlandlied und DDR-Hymne' gilt in seiner strukturellen Analyse für viele andere Erinnerungsorte: 'Die Geschichte unserer Hymnen mit all ihrer Unbestimmtheit und Mißdeutung, ihrer unterstellten Maßlosigkeit und 'verstümmelten Gestalt' (Hermann Kurzke) ist auch Ausdruck und Spiegelbild der wechselvollen deutschen Geschichte. In der die ursprüngliche Bedeutung verfälschenden Beschränkung auf die erste Strophe und gleichzeitiger Unterdrückung der dritten, demokratischen, blieb stets etwas von der vormärzlichen Freiheits- und Einigungshoffnung bewußt. Und im schamhaften Verschweigen der nationalsozialistisch kontaminierten ersten Strophe, ja, in der Rückführung der Hoffmann-Hymne auf die bloße Haydn-Melodie klingt das sprachlose Erschrecken über die Gewaltverbrechen Hitler-Deutschlands unüberhörbar nach.'