Genanalyse als Verfassungsproblem
Zulässigkeit genanalytischer Anwendungen im Lichte von Menschenwürde und genetischem Selbstbestimmungsrecht

Mit beispielhafter Klarheit, sowohl in der Gesamtsystematik als auch in Einzelaussagen, erörtert Tjaden in seiner von Eibe Riedel (Mannheim) betreuten Dissertation die vielschichtige Thematik der rechtlichen Rahmenbedingungen von Genanalysen.

Im ersten Teil erläutert er - mit einem bei den alten Griechen beginnenden historischen Abriß - auf fast 60 Seiten den geistesgeschichtlichen und vor allem den naturwissenschaftlichen Hintergrund von Genanalysen. Für nur juristisch und nicht naturwissenschaftlich-medizinisch geschulte Leser ist dies zu weiten Teilen nicht im einzelnen nachvollziehbar. Man kann zwar dem Verfasser gratulieren, daß er sich in die Materie soweit ersichtlich gut eingearbeitet hat und die Fachliteratur anscheinend ebenso gekonnt auswertet wie in den anderen Teilen die juristische, aber den Zusammenhang der vielen naturwissenschaftlichen Details mit den juristischen Aspekten deutlich zu machen, ist ihm nicht gelungen. Es mag ja sein, daß viele der Ängste, die der Genanalyse nicht nur in der Laiensphäre, sondern auch in der juristischen Literatur entgegengebracht werden, auf Unverständnis beruhen. Dem durch eine Art Crash-Kurs 'Genanalyse für Juristen' begegnen zu wollen, ist ehrenwert, aber im Rahmen eines solchen Buches meines Erachtens verfehlt. Besser wäre gewesen, die für das Spätere wesentlichen Aussagen in einer für Juristen leichter zugänglichen Darstellung zusammenzufassen.

Der zweite Teil (ebenfalls ca. 60 Seiten) ist der verfassungsnormativen Erfassung der Genanalyse gewidmet. Einer der beiden gewählten Anknüpfungspunkte ist der Schutz der Menschenwürde. Diese wird verletzt, wenn der Mensch unter Mißachtung seiner Autonomie zum Objekt gemacht wird. Der zweite Anknüpfungspunkt ist ein - analog zum informationellen Selbstbestimmungsrecht - aus Art. 2 GG ableitbares Recht auf genetische Selbstbestimmung.
Im Hauptteil werden die wichtigsten Anwendungsfälle der Genanalyse rechtlich beurteilt. Für das Arbeitsrecht wird "in Nachzeichnung der herrschenden Meinung" die Auskunftspflicht des Stellenbewerbers über den Gesundheitszustand als Auskunftspflicht über bekannte genetische Veranlagungen mit Krankheitswert bejaht, soweit der Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse an diesen Informationen hat. In diesem Rahmen gibt Tjaden, anders als es zum Beispiel Wolfgang Däubler tut, dem Arbeitgeber auch das Recht, den Bewerber aufzufordern, die Einwilligung zu einer genetischen Einstellungsuntersuchung zu geben. Der Verfasser widerspricht auch der in der Literatur vertretenen Auffassung, daß im Rahmen arbeitsmedizinischer Vorsorgeuntersuchungen Genanalysen nicht vorgesehen werden dürfen. Seine hierbei angeführten Argumente sind durchweg gut nachvollziehbar.

Für das Versicherungsrecht kommt Tjaden ebenfalls, bei Differenzierungen, welche hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden können, zu Ergebnissen, welche eine Verwendung von Genanalysen unter bestimmten Voraussetzungen ermöglichen. (Daß er zu Unrecht und ohne nähere Argumentation die übliche Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht in Privatversicherungsvertrags-Antragsformularen für wirksam hält, stellt die wesentlichen Erkenntnisse Tjadens nicht in Frage.) Vor kurzer Zeit, so daß der Autor in seinem Buch nicht darauf Bezug nehmen konnte, haben ja Verbände der Privatversicherungswirtschaft erklärt, freiwillig auf die Erhebung genanalytischer Befunde zu verzichten. Ob dies die Versicherungsnehmer auf Dauer entgegen den von Tjaden zur gegenwärtigen Rechtslage gefundenen Ergebnissen vor der Verwendung genanalytischer Befunde bewahrt, bleibt abzuwarten.
Für weitere Anwendungsfelder wie die Pränataldiagnostik oder die strafprozessuale Forensik stellt Tjaden ebenfalls die rechtlichen Möglichkeiten und Grenzen von Genanalysen dar. Als Zwischenergebnis hält er fest, daß im Rahmen der gegenwärtigen Rechtslage keine genanalytische Anwendung geeignet ist, die Menschenwürde des Analysierten zu verletzen, und daß sein Recht auf genetische Selbstbestimmung nur dann verletzt ist, wenn ohne seine freiwillige Mitwirkung Daten über seine genetische Konstitution erlangt werden. Es verwundert nicht, daß der Autor als abschließendes Ergebnis formuliert, es bestehe kein Bedarf an zusätzlicher gesetzgeberischer Gestaltung.

Ein solches Ergebnis ist - das liegt in der Natur der Sache - eine rechtspolitische Wertung, die nur begrenzt mit wissenschaftlich abgesicherten Erwägungen begründet werden kann. Es erscheint mir, im Unterschied zu Tjaden, keineswegs abwegig, dem Gesetzgeber erhebliche Einschränkungen der Erhebung und Verwendung von Genanalysen zu empfehlen, sei es auch nur, um den nun einmal vorhandenen Ängsten von Arbeitnehmern oder Verbrauchern Rechnung zu tragen.

Allerdings kommt niemand, der solche stärkeren Einschränkungen befürwortet oder sich anderweitig ernsthaft mit den Rechtsfragen der Genanalyse auseinandersetzt, darum herum, Tjadens Untersuchung zur Kenntnis zu nehmen und zu berücksichtigen. Die eingangs schon hervorgehobene Klarheit seiner Darlegungen und die durchweg differenzierte und niemals platte, oberflächliche oder einseitige Argumentation machen das Buch zur Pflichtlektüre.