MdE - Minderung der Erwerbsfähigkeit
Begutachtung in Deutschland seit 1871 – und zukünftig?

Erleidet jemand, der in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert ist, infolge eines Arbeitsunfalls, eines Wegeunfalls oder einer Berufskrankheit einen vollständigen Verlust der Erwerbsfähigkeit, so erhält er eine Verletztenrente in Höhe von zwei Dritteln des Jahresarbeitsverdienstes. Dies ist die sog. Vollrente. Bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit wird Teilrente geleistet; sie wird in Höhe des Vomhundertsatzes der Vollrente geleistet, der dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit entspricht. Etwas Ähnliches ist geregelt für den Fall, daß jemand einen Anspruch auf Beschädigtenrente erwirbt infolge von Kriegseinwirkungen, im Dienst der Bundeswehr, im Zivildienst oder als Opfer einer Gewalttat. Auch hier, im sozialen Entschädigungsrecht, hängt die Höhe der Rente vom Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit ab. Daher ist es eine interessante Frage, ob in beiden Bereichen des Sozialrechts die gleichen Verfahren zur Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) angewendet werden, und, falls dies nicht der Fall ist, warum ähnliche Tatbestände unterschiedlich begutachtet werden, und ob nicht eine Angleichung sinnvoll wäre.

Hartmut Göpfert erörtert diese Fragen. Er kommt zu dem Ergebnis, daß in den beiden Bereichen Unterschiede bestehen, dienicht mit medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern mit historisch entstandener sozialpolitischer Entwicklung zu erklären sind. Ein Beispiel für diese Unterschiede ist, daß ein Versicherter, dessen Unterschenkel infolge eines Arbeitsunfalls amputiert werden muß, eine Verletztenrente auf der Grundlage von 40 % MdE erhalten wird, während derselbe Körperschaden im sozialen Entschädigungsrecht zu 50 % MdE führt.
Die historische Entwicklung wird vom Verfasser nachgezeichnet. Er findet aus medizinischer Sicht Gemeinsamkeiten und Angleichungstendenzen beider Sozialleistungsbereiche; die Unterschiede liegen seiner Meinung nach außerhalb des medizinisch-wissenschaftlichen Bereiches. Konsequenterweise fordert der Verfasser als Mediziner eine Rechtsänderung, welche zu gleichen MdE-Graden bei gleichen Verletzungsfolgen führt.

Aus juristischer oder auch soziologischer Sicht bietet die Schrift interessante Denkansätze, welche Wert wären, noch vertieft zu werden: Welches sind die Funktionen einer Verletztenrente einerseits, einer Rente nach dem Bundesversorgungsgesetz andererseits? Inwieweit lassen sich die mit der historischen Entwicklung erklärten Unterschiede der Rentenbemessung mit den unterschiedlichen Organisationsformen der Leistungsträger in Beziehung setzen, insbesondere mit der Selbstverwaltungsautonomie der Berufsgenossenschaften als Trägern der Unfallversicherung? Das Verdienst der Schrift von Göpfert liegt wohl in erster Linie darin, Anstöße für weitere wissenschaftliche Betrachtungen gegeben zu haben. Die Praxis der Begutachtung wird aber sicherlich noch längere Zeit von den hier dokumentierten Unterschiedlichkeiten geprägt bleiben.