Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts

Hans Joachim Iwand (1899-1960) verband in seinem theologischen Denken von seinem Lehrer Rudolf Hermann her die Theologie Luthers mit den Anstößen und Entfaltungen Karl Barths, weshalb 'Rechtfertigungslehre und Christusglaube' sein ihn über die Habilitation hinaus begleitendes Thema war. Mit ihm teilte er auch das Drängen auf politische Konsequenzen des Glaubens, die seit dem von ihm entworfenen 'Darmstädter Wort des Bruderrates zum politischen Weg unseres Volkes' 1947 in vielen Bereichen die geforderte Umkehr anzustoßen und zu praktizieren suchten. In diesen Zusammenhang gehören auch seine hier aus dem Nachlaß zusammen mit zugehörigen Texten vorgelegten Göttinger Vorlesungen: 'Geschichte der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert' (WS 1948/49 - SS 1949) und 'Einführung in die gegenwärtige Lage des systematischen Theologie' (WS 1949/50 - SS 1950). Leider kommt in dem zusammenfassenden Buchtitel nicht angemessen zum Ausdruck, daß die 'gegenwärtige Lage' auch die Perspektive für die Beschäftigung mit dem 19. Jahrhundert bildet. Anders als die Väter nach 1918 will er nach 1945 nicht den Stab brechen über die Urgroßväter, sondern 'das ernste und tiefe Ringen der Theologie des 19. Jahrhunderts' mit dem Ziel einer 'Versöhnung' und damit auch eingedenk der eigenen Fragen, also keinesfalls kritiklos wieder aufzunehmen. Und dabei kann er dann auch den angesichts seiner Lehrer erstaunlichen Satz wagen, daß es diesen Theologen zwar 'nicht gelungen [sei], das Dogma in seinem eigentlichen Bestand zu fassen,' aber 'sie haben das im achtzehn--ten Jahrhundert nicht mehr verstandene Dogma der Kirche aufgearbeitet und haben darin einen Schritt - über die Reformation hinaus getan'. Und deshalb steht am Ende der ersten Vorlesung Hegel unter der Überschrift 'Das Dogma' und seine 'sehr ernsthafte[n] Fragen' waren auch diejenigen Iwands, die Bedeutung der Gotteserkenntnis für das Tun seines Willens, das nicht im glaubenden Subjekt aufzulösende Verhältnis von Glauben und Wissen, Dogma und Gottesdienst und die Frage der theologischen Methode.
So lassen sich die Vorlesungen als Teil von Iwands theologischem Denken in seiner Zeit lesen, die im Verlauf der Generationen diejenige unserer Väter und Großväter geworden ist. Damit stellt sich die leider von Gerard C. den Hertog in seinem einführenden (!) Nachwort nicht aufgeworfene Frage nach dem Beitrag zur heutigen Lage der Theologie, von Glaube und Wissen, denn Iwand ging es um unverkürzte und darum öffentliche Theologie, so daß der Blick auf das 19. Jahrhundert mit dem 'Problem der Gesellschaft' beginnt, und damit bei einer gegenwärtig wieder aktuellen Fragestellung. Nach der Schleiermacher-Renaissance sucht man dazu vielfach Antworten im Rückgriff auf Ernst Troeltsch. Bei Iwand erscheint er als der 'letzte Vertreter des Neuprotestantismus', der 'ganz Ernst (macht) mit der Relativität des Christentums - aber nur, um seine Religion, um die Religion des abendländischen Menschen zu retten'. Deshalb stellt ihm Iwand mit kritischer Sympathie Max Weber gegenüber, der sich in skeptischer, das Christentum hinter sich lassender 'intellektueller Rechtschaffenheit' die Herausforderung der Wissenschaft angenommen hat. Und so wären noch weitere Beobachtungen und Anstöße zu nennen, um nach einem halben Jahrhundert die damaligen Herausforderungen der Vergangenheit als heutige zu erkennen.