Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit
Sozialer Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft. Ein theologischer Beitrag

Wie die 'Aktion Gemeinsinn' auf die gesellschaftlichen Veränderungen im Gefolge des 'Wirtschaftswunders' reagierte, entspricht den neuen Pluralisierungsschüben die inzwischen in Deutschland aufgegriffene Diskussion Amerikas über 'Kommunitarismus'. Daß diese Reaktionen vielfach als antimodern angesichts der Modernisierungsprozesse verurteilt wurden, ließ bereits Ferdinand Tönnies 1922 im Vorwort der vierten Auflage von 'Gemeinschaft und Gesellschaft' (1. Aufl. 1887) sich gegen den Vorwurf verteidigen, seine Idealisierung von Gemeinschaft bedeute eine Ablehnung der Moderne. Andererseits signalisiert das Erscheinen dieses Klassikers der Soziologie und besonders seine zunehmende Rezeption ab 1912 und in den Zwanziger Jahren, als Gemeinschaft zum 'Idol dieses Zeitalters' (Plessner, 1924, zit. S. 67) wurde, die zunehmende Virulenz der Fragestellung. Das Grundproblem der Weimarer Republik war die 'Integration' (Smend), Antworten erfolgten unter Stichworten wie Volk, Kultur, Religion, Wertordnung, Legitimität statt Legalität, überpositives Recht und eben Gemeinschaft. Leider bleibt dieser von Klaus Tanner (Die fromme Verstaatlichung des Gewissens, Göttingen 1989) analysierte Kontext bei Bedford-Strohm durch die Konzentration auf 'Gemeinschaft' unbeachtet, so daß er die vielfach zu beobachtende Orientierung der evangelischen Theologie an der von Tönnies eingeführten Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft allein auf die Vereinnahmung des Gemeinschaftsbegriffs im Drittten Reich zurückführt. Bereits die Beachtung sinnverwandter Ausdrücke oder der Institutionen-Diskussion hätte zugleich das Verhältnis von kirchlichen und anderen Handlungsweisen, von Ekklesiologie und Ethik zu bedenken. Demgegenüber kann Bedford-Strohm die ekklesiologische Verwendung und Veränderung stoischer Staats- und Gemeinschaftsbilder bei Paulus (1. Kor 12) entsprechend den antiken Traditionen unbefragt auf das ethische Problem Pluralismus und Gemeinschaft beziehen (S. 346 ff.). Das ist besonders deshalb auffällig, weil es ihm letztlich im Sinne einer 'öffentlichen Theologie' gerade um den Beitrag der Kirche zur Zivilgesellschaft geht.
Ausgehend von den Entwürfen von F. Tönnies und E. Durkheim und heutigen soziologischen Analysen von Individualisierung und sozialen Zusammenhalt sowie Beziehungen gilt das Interesse der Heidelberger Habilitationsschrift der Frage, in welcher Weise die theologische Ethik heute Grundlagen von Gemeinschaft denken und zu ihrer Ausgestaltung in einer demokratischen Kultur beitragen kann. Der mögliche Beitrag ergibt sich aus dem der Wechselwirkung von Gesellschaft und Gemeinschaft zugrundeliegenden Problem, 'daß die moderne Gesellschaft durch strukturelle Entwicklungen und marktförmige Prozesse immer mehr ,Sinn‘ und Solidaritätspotentiale verbraucht, als sie erzeugt' (Heitmeyer, zit. S. 26 f.), also gemäß dem Böckenförde-Theorem von Voraussetzungen lebt, die sie selbst nicht garantieren kann. Deshalb entfaltet Bedford-Strohm das christliche Verständnis der Liebe (agape). Sie ist nicht als Selbstaufopferung der Selbstliebe (eros) frontal entgegengesetzt, sondern erhält ihre 'gemeinschaftstiftende Kraft' in der Reziprozität, so daß sich beide überschneiden in der 'natürlichen Humanität'. Die Analyse führt deshalb zu der These, daß Liebe als 'Kraft einer Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit' zu verstehen und zu erfahren ist. Pluralismus ist in dieser Kommunikation kein störender Fremdkörper, sondern wegen der Annahme des anderen in der Liebe gerade ein produktives Element in einem dynamischen Prozeß. Die 'aus der transformativen Kraft der Liebe Gottes lebende Gemeinschaft' hat primär die Kirche als Raum kommunikativer Freiheit zu prägen, was aber auch sozialethische Konsequenzen für die Gesellschaft hat. Deshalb orientiert Bedford-Strohm das Leitbild der demokratischen Zivilgesellschaft am Modell kommunikativer Freiheit. Das damit gegebene Problem der Verbindung und Differenz von Kirche und Gesellschaft möchte Bedford-Strohm gemäß dem von Wolfgang Huber entwickelten Konzept einer 'öffentlichen Theologie' lösen. Seine abschließende These lautet: 'Die Kirchen sind von ihrer institutionellen Gestalt und von ihrer Botschaft her dazu prädestiniert, eine aktive Rolle bei der Förderung und Pflege einer Kultur der Zivilgesellschaft zu übernehmen.' Daß diese Aussage angesichts der kirchlichen Realität und ihres gesellschaftlichen Stellenwertes eher den Charakter eines Ideals oder gar einer Utopie hat, erinnert einerseits an die Idealisierung der Gemeinschaft bei Tönnies, die Bedford-Strohm gerade überwinden will, und nötigt andererseits zu der Frage, ob sich nicht in und hinter transformativer Liebe, kommunikativer Freiheit usw. der Idealismus Hegels, also die Suche der Dialektik nach Synthese versteckt.