„Und las den Vers, und lernte fühlen.“ Über ein ehrgeiziges Unternehmen des AvivA-Verlags und eine feministische Streitschrift
Der AvivA Verlag ist für Neues, Überraschendes, Innovatives und nur scheinbar „Abseitiges“ bekannt. Der Verlag mit seinem frühlingshaften Namen (Aviva ist die weibliche Schreibung von Aviv: hebr. Frühling) wurde 1997 von der Literaturwissenschaftlerin und Kunsthistorikerin Britta Jürgs gegründet. Schwerpunkte des Verlagsprogramms sind Romane der 1020er Jahre, Werke von Frauen in der Kunst sowie Kulturgeschichte mit Schwerpunkt jüdische Geschichte.
In der Reihe „Wiederentdeckte Schriftstellerinnen“ veröffentlicht der Verlag in Erst- und Neuauflagen Werke aus den 1920er und 1930er Jahren von deutschsprachigen, vor allem jüdischen Autorinnen wie Victoria Wolf, Lili Grün, Alice Berend, Ruth Landshoff-York, Alice Rühle-Gerstel, Maria Leitner, Christa Winsloe, Lessie Sachs oder Vicky Baum. Die Autobiographie „Ein Mensch wird“ von der Schriftstellerin Alma M. Karlin (1889-1950), die ab 1919 acht Jahre lang die Welt bereiste, erschien erstmals im deutschsprachigen Original im AvivA Verlag, der auch die Reiseberichte der Autorin wieder veröffentlichte. In Erst- oder Neuübersetzungen erschienen Werke der amerikanischen Undercover-Journalistin und Weltreisenden Nelly Bly (1864-1922), der britischen Schriftstellerin und Dramatikerin Shelagh Delaney, der französischen Ethnologin und Widerstandskämpferin Germaine Tillion, der amerikanischen Schriftstellerin Silvia Tennenbaum sowie das Theaterstück „Freshwater“ von Virginia Woolf. Werke der Berliner Schriftstellerin Annemarie Weber aus den 1960er und 1970er Jahren sowie Texte von Gegenwartsautorinnen wie Esther Dischereit, Marina Neubert oder der feministischen Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch sowie der georgischen Schriftstellerin Salome Benidze ergänzen das Programm. Die Künstlerinnen-Reihe widmet sich in Biografien und Anthologien Frauen aus der Kunst-und Kulturgeschichte (z. B. „Frauen im ‚STURM.‘ Künstlerinnen der Moderne“ von Karla Bilang, „So viel Energie – Künstlerinnen in der dritten Lebensphase“ von Hanna Gagel, oder „So viel Phantasie – Schriftstellerinnen in der dritten Lebensphase“ von Ingeborg Gleichauf). Um das Exil von Jüdinnen geht es in dem Buch „‘Und draußen weht ein fremder Wind‘. Über die Meere ins Exil“ von Kristine von Soden (2020), oder „‘Und alles ist fremd hier.‘ Deutschsprachige Schriftstellerinnen im britischen Exil“ von Doris Hermanns (2022); Britta Jürgs brachte im Jahre 2000 die Anthologie „‘Leider hab ich‘s Fliegen ganz verlernt.‘ Portraits von Künstlerinnen und Schriftstellerinnen der Neuen Sachlichkeit“ heraus. Die Verfasserinnen stellen bekannte Autorinnen wie Mascha Kaléko oder Gabriele Tergit vor, aber auch „Vergessene“ wie Lotte Laserstein oder Victoria Wolf oder die zu Unrecht immer noch kaum bekannte jüdische Malerin Anita Rée, die, verzweifelt angesichts der Bedrohung durch die Nationalsozialisten, 1933 Selbstmord beging. Kein Ort. Nirgends. Ihre Bilanz. „Ich kann mich in so einer Welt nicht mehr zurechtfinden und habe keinen einzigen anderen Wunsch, als sie, auf die ich nicht mehr gehöre, zu verlassen. Welchen Sinn hat es – ohne Familie und ohne die einst geliebte Kunst und ohne irgendeinen Menschen – in so einer unbeschreiblichen, dem Wahnsinn verfallenen Welt weiter einsam zu vegetieren und allmählich an ihren Grausamkeiten innerlich zugrundezugehen?“
Eine besondere Trouvaille des AvivA Verlags ist die zweibändige, schön in Rot bzw. Blau gehaltene (also auch optisch ansprechend gestaltete) Ausgabe (Romane bzw. Gedichte und Dramen) der Werke der englischen Dramatikerin und Dichterin Aphra Behn. Ein Begriff ist die Autorin dem/der Einen oder Anderen vielleicht durch Virginia Woolfs Eloge, „alle Frauen sollten Blumen auf das Grab von Aphra Behn streuen, denn sie erstritt ihnen das Recht, ihre Gedanken auszusprechen.“ Aphra Behn (1640-1689) war die erste Berufsschriftstellerin Englands. Das Grab ist übrigens leicht zu finden: Es befindet sich in der Westminster Abbey. Aber wer war diese frühe Schriftstellerin, die einst so bekannt war, daß sie von ihrem Schreiben leben konnte?
Gleich zwei neue Veröffentlichungen helfen jetzt die Frage zu beantworten: Der Unionsverlag bringt den Roman „Oroonoko“ neu heraus (die Erstpublikation war, vor Jahrzehnten, im Manesse Verlag), und der AvivA Verlag bietet in seinem Schuber mit zwei Bänden noch mehr Möglichkeiten, Behns Werk kennenzulernen.
Aphra Behn, nun endlich aus dem Dunkel des Vergessenwerdens/Ignorierens ausgegraben, ist ein Beispiel von vielen. Es scheint – immer noch – der Geschichte der schöpferischen Leistungen von Frauen jene fatale Dialektik des „Vergessens“ (oder sagen wir besser: Totgeschwiegen Werdens) und Ausgegraben Werdens innezuwohnen, die es uns erschwert, unserer eigenen Geschichte sicher zu sein, eine Kontinuität herzustellen; und die bestellten Klageweiber der „Frauengeschichtsforschung“ kommen immer zu spät. Oder, wie es Luise F. Pusch, Herausgeberin des Kalenders „Berühmte Frauen“, seit 1987, auf den Punkt bringt: „Für nichts wird so viel Reklame gemacht wie für Männer. Unentwegt erinnern sie an sich selbst: auf Geldscheinen und Gedenkmünzen, mit Bronzebüsten und Straßenschildern, in Lexika und Zitatensammlungen. Frauen kommen dabei, bzw. kamen bis vor kurzem, so gut wie nicht vor. Und das ist auch nicht verwunderlich. Männer überliefern nur, was sie ererbt von ihren Vätern – das ‚mütterliche‘ Erbe müssen die Frauen sich schon selbst erwerben und verbreiten. Allerdings sind die Informationen über bedeutende Frauen schwer zugänglich (…).“
Bereits Virginia Woolf schreibt 1929 in „Ein eigenes Zimmer“: „Frauen werden, allgemein gesprochen, an einem Grabstein oder an einem Wegweiser vorbeigehen, ohne den unwiderstehlichen Drang zu spüren, ihre Namen hineinzuschneiden, wie es Alf, Bert oder Chas. tun müssen, ihrem Instinkt gehorchend, der, wenn er eine schöne Frau oder auch nur einen Hund vorbeigehen sieht, jedesmal murmelt: Le Chien est à moi (Dieser Hund gehört mir).“
An anderer Stelle schreibt sie: „Dem flüchtigen Besucher dieses Planeten (…) konnte nicht entgehen, daß England unter der Herrschaft des Patriarchats steht. Kein vernünftiger Mensch konnte die Vorherrschaft des Professors (der ein wütendes, gehässiges Buch über die Frauen schrieb; S. Sparre) übersehen. Sein war die Macht und das Geld und der Einfluß. Er war der Besitzer der Zeitung und ihr Chefredakteur und Ressortleiter. Er war der Außenminister und der Richter. Er (...) besaß die Rennpferde und die Jachten. Er war der Direktor der Gesellschaft, die zweihundert Prozent an ihre Aktionäre zahlt. Er vermachte Millionen an Wohltätigkeitseinrichtungen und Colleges, die von ihm geleitet wurden. (…). Dennoch war er zornig. Und ich hatte ihn als zornig erkannt. Als ich las, was er über Frauen schrieb, dachte ich nicht an das, was er sagte, sondern an ihn selbst. Wenn jemand leidenschaftslos argumentiert, denkt er nur an seine These; und der Leser kann nicht umhin, auch an diese These zu denken. Wenn er leidenschaftslos über Frauen geschrieben hätte, unwiderlegbare Beweise zur Untermauerung seiner These beigebracht und keinerlei Neigung gezeigt hätte, ein bestimmtes Ergebnis einem anderen vorzuziehen, wäre man ebenfalls nicht zornig geworden. Man hätte die Tatsache hingenommen, wie man die Tatsache hinnimmt, daß eine Erbse grün und in Kanarienvogel gelb ist. So sei es, hätte ich gesagt. Aber ich war zornig geworden, weil er zornig war. Dennoch mutet es absurd an (…), daß ein Mann mit all seiner Macht zornig war. Oder ist Zorn (..) gleichsam der Hausgeist, der Leibkobold der Macht?“
Was Virginia Woolf hier schildert, nur ein Jahr, nachdem die Frauen Englands endlich das Wahlrecht errungen hatten (und dieser Kampf hatte Jahrzehnte gedauert und hatte Todesopfer gefordert), ist eine Situation, die bis heute unverändert fortbesteht. Die Männer haben die Definitionsmacht; sie bestimmen den Kanon von „Höhenkammliteratur“, bestimmen, was in die Literaturgeschichte aufgenommen und was als Schullektüre gelesen wird. Nur ein Beispiel: In der EMMA vom September/Oktober 1997 ist ein Gespräch zwischen Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz veröffentlicht. Sie nennen die Probleme, die „Frauen, mit der Anmaßung, Schriftstellerin zu sein“ haben. Denn „Frauen, die schreiben, tun das in einer Sprache, die von Männern geprägt ist, sie veröffentlichen in Verlagen, die Männer gehören (hier hat sich in den letzten Jahrzehnten erfreulicherweise etliches geändert; Nicole Seifert erwähnt Edition fünf, Aviva, Dörlemann, den Verlag Das vergessene Buch oder den Ulrike Helmer Verlag mit seiner Edition Klassikerinnen: „konzernunabhängige kleine Verlage“. Ich ergänze: die Reihe „Widerständige Frauen“ im Verlag Edition AV), sie agieren in einer Öffentlichkeit, in der Männer das Gewaltmonopol und die Definitionsmacht haben. Frauen, die schreiben, sind Fremde. Bleiben sie am Rand, werden sie nicht gehört; streben sie zur Mitte, laufen sie Gefahr, zu verstummen. Sie bleiben Parias, auch in Zeiten des Umbruchs, in denen Hoffnung für alle Menschen aufkeimt. Der allgemeine Fortschritt bringt ihnen nicht automatisch mehr Freiheiten, sondern auch neue Fallen.“ Jelinek und Streeruwitz sprachen in der EMMA-Redaktion miteinander: über ihr Leben, ihre Arbeit und ihr Fremdsein.
Anlaß war, daß im April 1996, zu der Verleihung der TV-Plakette „Romy“, Thomas Gottschalk Elfriede Jelinek anpöbelte („Ich will Frau Jelinek nicht hindern, eine gewisse Zeit in sich zu gehen. Wenn sie wieder rauskommt, gefällt‘s ihr bestimmt überall besser“ – ein „Wahnsinn, der Methode“ hat: Nicole Seifert bringt in ihrer Streitschrift „ Frauen Literatur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt“ [das Wort Frauen ist durchgestrichen!] zahlreiche weitere Beispiele der obigen Art: Da wurde z. B. Marlene Streeruwitz im Literarischen Quartett vorgeworfen, ihre Beschreibung des Alltags, der Gedanken und Gefühle ihrer Protagonistin sei „Nabelschau, purer Narzissmus, Exhibitionismus.“ Und die Figuren von Simone Hirth seien nicht „bescheiden“ genug. Worum es geht: Allen Besprechungen der sog. „Großkritiker“ ist gemein, daß die Probleme der Roman-Protagonistin nicht inhaltlich aufgegriffen und reflektiert, sondern abgewertet und als Vorwurf an die Autorin zurückgespiegelt werden). Die beiden Autorinnen begreifen, daß z. B. Schönheit – Mode, Sich Schminken - nicht etwas ist, was eine Frau für sich tut und erlebt, sondern „es geht um die Machtfrage“, so Jelinek, „die Männer haben immer noch die Definitionsmacht.“ Und sie weiß: „Wir finden Worte für das, was los ist, aber es bleibt folgenlos. (…). Eine Frau ist kein Einzelschicksal wie ein Mann. Eine Frau hat kein Ich. Eine Frau steht für alle Frauen. Als Vertreterin einer unterdrückten Kaste schreibt sie für alle anderen mit. Man gesteht uns nicht zu, Ich zu sagen.“
Streeruwitz (die Jelineks Argument widerspricht), berichtet, daß es bei ihr „diesen existentiellen Zusammenstoß zwischen der Gesellschaft und der Mutterschaft“ gäbe. „Ich war gezwungen, ein Ich herzustellen.“ Beide Frauen wissen – mit Ruth Klüger (die zitiert wird), daß ein Mann „niemals lesen würde, was eine Frau schreibt“. Auch Nicole Seifert weist darauf hin.
Auch dies hat mit der männlichen Definitionsmacht zu tun. Streeruwitz: „Das Problem ist, daß es keinen Werk-Begriff gibt für das, was Frauen machen. Wir müssen doch mit jedem einzelnen Werk erneut den Beweis vorlegen, während Männern gegenüber Kontinuität ihres Schaffens im Vordergrund steht und von Werk zu Werk Wirkung aufgebaut werden kann. Bleiben wir nicht in Erinnerung?“ Darauf Jelinek: „Eine Frau darf kein Werk haben.“
Und: „Man will ja nicht immer gelobt werden, aber man will wenigstens gesehen werden. Man arbeitet drei Jahre an einem Roman. Wenn es einem sogar mit einem 700-Seiten-Buch gelingt, verächtlich abgetan zu werden, dann fällt einem nichts mehr ein, was man noch tun kann.“ Streeruwitz erklärt, daß sie „aus Wut“ schreibe, „gegen all die Ungerechtigkeiten, (…) die sich hinter solchen Behandlungsweisen ja nur maskieren.“
Es geht in dem Gespräch der Autorinnen darum, „für das, was bisher nicht gesagt werden konnte, einen Ausdruck zu finden.“ – „Das ist das Paria-Bewußtsein der Frauen“, ergänzt Jelinek: „dieses Bewußtsein der endlosen Demütigung jeder Frau.“
Ich habe Teile dieses Gesprächs deshalb so ausführlich zitiert, weil es wie unter einem Brennglas die Probleme aufzeigt, die für „schreibende Frauen“ (für Männer gibt es diese Formulierung nicht: sie sind die urteilende Instanz; die Frau, „das Andere“, das zu definierende) nach wie vor existieren – auch 2023.
Natürlich hat die neue Frauenbewegung seit den 1970er Jahren etliche Beweise ausgegraben, daß auch Frauen Genie haben können; daß sie imstande sind, Welten aus Worten zu erschaffen; sie haben eine Geschichte weiblicher Leistungen ins öffentliche Bewußtsein gehoben. „Frauenliteratur ohne Tradition?“ lautet der provokative Titel einer Anthologie,1987 von Inge Stephan, Regula Venske und Sigrid Weigel herausgegeben.
Aber es gibt nur scheinbar „einen Bruch in der Tradition“ , nur scheinbar ein gleichsam voraussetzungsloses Schreiben. Um hier nur ein Gegen-Beispiel zu nennen: Das Buch „Deutsche Dichterinnen. Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart“, erstmals 1978, dann wieder 1987 von Gisela Brinker-Gabler herausgegeben, beweist unwiderlegbar eine Kontinuität weiblicher Autorschaft, literarischen Ehrgeizes und Begabung.
Und doch ist für das Bewußtsein von „Kontinuität des Schaffens,“ das „Aufbauen von Werk zu Werk“, bei weiblichen Autoren (wovon Streeruwitz spricht) heute immer noch ein Kampf nötig; und die Werke von Frauen - ob in der Musik, in den bildenden Künsten, in der Philosophie oder in der Literatur - müssen in jeder Generation als eine im öffentlichen Bewußtsein festumrissene Größe im Kanon Bedeutsamer Kulturleistungen neu ausgegraben, erklärt und definiert werden: Denn wer kennt – außer Germanist/INNEN - heute die Barockdichterin Sibylla Schwarz (obwohl in den letzten Jahren ihr Werk neu entdeckt wurde, z. B. wurde 2021 eine Auswahl, „Ich fliege Himmel an mit ungezähmten Pferden“ herausgebracht)? Oder Johanne Charlotte Unzer, Susanna Elisabeth Zeidler, Margaretha Susanna Kuntsch, Anna Rupertina Fuchs, Sidonia Hedwig Zäunemann (im Herbst 2021 brachte Corinna Dziudzia von Zäunemann „Feder in der Hand, Degen in der Faust“ heraus), aber auch Autorinnen des 19./20. Jahrhunderts, wie Sophie Albrecht, Louise Brachmann? Oder Emma Döltz oder Lisbeth Eisner, Berta Lask?
Daß hier ein Bewußtsein weiblicher Autorschaft, ein tradiertes und jederzeit und leicht verfügbares Wissen über Autorinnen über weite Zeitabschnitte völlig verloren gegangen ist, zeigt uns die Notwendigkeit klarer und kritischer Analysen, wie sie z. B. Nicole Seifert leistet - und die Versuche, Lücken zu füllen, wie es etliche Publikationen des AvivA Verlags unternehmen – so die Monographie von Iris Schürmann-Mock: „‘Ich finde es unanständig, vorsichtig zu leben.‘ Auf den Spuren vergessener Schriftstellerinnen“ - wie gesagt, es muß herbei immer mitgedacht werden: Es geht weniger um Vergessen -“ als vielmehr Totgeschwiegen Werden, d.h. ein Ignoriert Werden im Kanon Bedeutsamer Werke. Seifert bringt dazu ein bestürzendes Beispiel der „doppelten Buchführung“, wie es die Malerin und feministische Historikerin Gisela Breitling 1980 in ihrer Monographie über Malerinnen („Die Spur des Schiffs in den Wellen“) bezeichnete: Männliche und weibliche Leistungen der Kunst, der Literatur werden unterschiedlich beurteilt.
„Im Herbst 1895 erschienen zwei Romane, deren Protagonistinnen letztlich an der Unmenschlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse zugrunde gehen. Die eine ist in ihrer arrangierten Ehe einsam und unglücklich und beginnt eine Affäre. Als diese Jahre später bekannt wird, fordert ihr wesentlich älterer Ehemann den ehemaligen Liebhaber zum Duell und läßt sich scheiden. Auch von ihren Eltern wird die junge Frau verstoßen. Erst lange darauf – sie ist inzwischen todkrank – nehmen diese sie wieder auf. Die andere, ebenfalls eine höhere Tochter im wilhelminischen Deutschland, versucht sich auf der ihr vorgezeichneten Lebensbahn – Jungfrau, Gattin und Mutter – zurechtzufinden. Sie hat zutiefst verinnerlicht, was von ihr erwartet wird, und will alles richtig machen. Die Steine, die ihr in den Weg gelegt werden, machen es ihr jedoch zunehmend unmöglich, auf diesem erwünschten Weg zu bleiben.“ Sie hat zu wenig Möglichkeiten, die ihr als Frau im Leben offenstehen. Auch sie fällt durch das Raster des gesellschaftlich Akzeptierten und endet krank und einsam.
Der erste Roman ist „Effi Briest“ von Theodor Fontane, der andere „Aus guter Familie“ von Gabriele Reuter. „Beide Romane waren große Verkaufserfolge, wurden bereits im Jahr ihres Erscheinens mehrfach nachgedruckt (so auch jüngst, d. h. 2016, wieder) und erlebten in den folgenden Jahren weitere Auflagen.“ Reuter, die bereits drei Bücher veröffentlicht hatte, wurde durch „Aus guter Familie“ „über Nacht berühmt“. Der Roman Reuters „wurde zu einem Identifikationsbuch einer ganzen Generation.“ Beide Autor/IN fanden auch bei der Kritik Beachtung und Anerkennung. Thomas Mann preist Gabriele Reuter 1904 als „die souveränste Frau, die heute in Deutschland lebt“; Sigmund Freud bescheinigte dem Roman „die besten Einsichten in das Wesen und die Entstehung der Neurose“.
Trotz dieses Hochlobs, trotz ihrer Erfolge geriet Reuter seit den 1920er Jahren zunehmend in Vergessenheit. „Eine Gesamtausgabe ihrer Werke hat es nie gegeben, und auch in der Literaturgeschichtsschreibung kam sie nicht vor“, berichtet Seifert.
Bei Fontane verhält es sich anders: Es gibt Gesamtausgaben seiner Werke; seine Balladen sind „Schullektüre, seine Werke sind fraglos Bestandteile des Kanons und waren zu keiner Zeit vergessen.“
Woran liegt das, daß Reuter „vergessen“ wurde, Fontane aber nicht?
Aus guter Familie wurde „in den Zweitausendern durch die Literaturwissenschaft wiederentdeckt, und es wurde viel geforscht, um diese Fragen zu beantworten. ‚Wiederentdeckt‘ heißt in diesem Fall allerdings: Der Roman ist nun einem kleinen Fachpublikum bekannt. Gehört man nicht zu diesem kleinen Kreis, wird man nicht unbedingt von dem Buch gehört haben. Aber immerhin: Es ist wieder lieferbar, man kann es in der Buchhandlung oder in der Bibliothek bestellen.“
Gabriele Reuters Schilderung von Agathes Untergang ist schonungslos, „manchmal drastisch. (...) Zum Schmunzeln gibt es bei ihr, anders als bei Fontane, kaum etwas, das Geschilderte ist zu ernst, oft auch bitter.“
Und: Reuter bietet für die geschilderten Probleme keine Lösung an, ihr Bericht ist ohne versöhnlichen Ton. „All das macht die Lektüre zu einer härteren als Effi Briest, die am Ende mit ihrem Schicksal im Reinen ist und alle Schuld am Geschehenen auf sich nimmt. Das letzte Wort bei Fontane hat der alte Briest, der dem Ganzen etwas geradezu Märchenhaftes (…) verleiht. Bei Reuter gibt es kein solches Ende, das einen beruhigt schlafen ließe. Daß sowohl Effi als auch Agathe den gesellschaftlichen Umständen ihr Lebensglück oder sogar ihr Leben opfern, wirkt bei Fontane, als hätte es letztlich seine Richtigkeit.“ Bei Reuter dagegen ist es verstörend. „Fontane“, so Seifert weiter, „erzählt neutraler und gefälliger, wo Reuters Roman auf Ungerechtigkeiten hinweist, aufwühlt und auf alles Abmildernde verzichtet.“
Was also ist der Grund des Schweigens in späteren Generationen?
Der Grund ist: Frau und Genie, das geht nicht. Was das, in aller Konsequenz, bedeuten kann, zeigt uns auch die Monographie von Iris Schürmann-Mock. Insgesamt werden 25 Autorinnen vorgestellt, und ich gestehe hier, daß ich z. B. weder Gabriele Reuter (der ein Kapitel gewidmet ist) noch Diana Kempff bislang kannte. Auch Anna Luise Karsch, die von 1722 bis 1791 lebte, war mir kein festumrissener Begriff. Und auch den Namen Alma Johanna Koenig hatte ich nie zuvor gehört. Dabei ist ihr Geschick demjenigen Gertrud Kolmars bestürzend ähnlich: Als Jüdin war Koenigs Leben gleichfalls gefährdet (sie wurde 1942 ermordet), und wir verdanken es nur einem glücklichen Zufall, daß ihr letzter Text, ein Roman mit dem Titel „Nero, der jugendliche Gott“, gerettet werden konnte. Sie schrieb den Text in einer winzigen kalten Kammer, die sie mit einer fremden Frau teilen mußte. Koenigs Geliebter, Oskar Jan Tauschinski, kam jeden Abend, nahm eine neue geschriebene Seite mit und schrieb diese fünf Mal ab. Zwei Exemplare überstanden den Krieg. Der Roman Koenigs wurde 1947 veröffentlicht. Er beschreibt im historischen Gewand „Gewaltherrschaft und Machtmißbrauch, unverkennbar sind die Parallelen zum Terrorregime der Nazis. Doch die Bedeutung des Romans“, so Schürmann-Mock, „geht darüber hinaus. Mit seinem unbedingten Eintreten gegen menschliche Überhöhung und Erniedrigung ist er zeitlos aktuell.“
Wer kennt Alma Johanna Koenig heute? Dabei war sie eine erfolgreiche Autorin, errang den Literaturpreis der Stadt Wien. Der literarische Erfolg war Koenig treu. Erst die Machtergreifung der Nationalsozialisten beendete ihn. Ihre Bücher wurden verboten.
Doch sie schrieb weiter, gegen alle Widerstände. Ihrem 27 Jahre jüngeren Geliebten widmete Koenig ihre letzten Gedichte, „Sonette für Jan“. Auch ihre letzten Lebenszeichen waren für ihn bestimmt, wenige Zeilen auf Zetteln, die sie aus dem Sammellager schmuggeln konnte. Am 27. Mai 1942 wurde Alma Johanna Koenig abtransportiert. „Danach ist sie verschollen.“
Aus den 25 paradigmatischen Biographien möchte ich eine weitere herausgreifen. Es ist das letzte Porträt der Sammlung: Diana Kempff. „Nachts aufbrechende Augen, zugenäht bei Tagesanbruch“ schildert Werk und Leben der Tochter des Pianisten Wilhelm Kempff, die als Kind aufgrund einer Drüsenerkrankung unter einer entstellenden Fettsucht litt, was sie zum perfekten Opfer für die Familie und der Schulkamerad/INNEN machte. Sie wurde gequält und ausgegrenzt. Für ihren autobiographischen Roman aus der Sicht eines Kindes, „Der Wanderer“, wurde sie mit dem renommierten Kleist-Preis ausgezeichnet. Diana Kempff hat außerdem den Gemini-Verlag gegründet, „in dem sie wenig beachteten Büchern eine Chance gab.“ Ihr berühmter Vater indes hat sie keineswegs unterstützt oder gefördert, im Gegenteil: „Seine Jüngste sollte nicht stören, darin erschöpfte sich die Aufmerksamkeit für sie. Mit ihrem Debütroman ‚Fettfleck‘ störte sie enorm. Die Mutter, aus altem Adel, bedauerte, daß er nicht wenigstens unter Pseudonym veröffentlicht worden war.“ Der Roman warf ein schlechtes Licht auf die Familie. Die Eltern schoben das Kind in Internate und Sanatorien ab. Es gab „an Folter grenzende Mißhandlungen“, Hohn und Spott, sowohl durch die Geschwister als auch die anderen Schulkinder. Sogar als herauskam, daß das Mädchen sexuell mißbraucht worden war, solidarisierte man sich nicht, sondern blieb „diskret“: „Der Ruf der Schule sollte nicht beschädigt werden.“ Der Lehrer wurde lediglich an eine andere Schule versetzt.
Das Mädchen flüchtete sich in eine Traumwelt, um psychisch zu überleben. Und sie hatte eine klare Zukunftsvorstellung: Sie wollte Dichterin werden, „damit man ihr endlich zuhört“.
Eine Zeitlang gelang ihr dies auch; sie schrieb Hörspiele, Romane, hatte Erfolg, errang Literaturpreise, Anerkennung.
Der Erfolg indes reichte nicht, um die Wunden, die Kempff geschlagen wurden, zu schließen. Ihre Geschwister brachen mit ihr, bescheinigten ihr „Talent zum Unglücklichsein.“ Sie weigerten sich, ihren Anteil am Leid der Schwester zu sehen.
Diana Kempff hat sich nicht umgebracht. Sie starb, mit nur 60 Jahren, nach langer Krankheit. Als Dichterin war sie schon vorher verstummt.
Das Konzept, mit dem Schürmann-Mock ihre Portraits aufbaut, ist so simpel wie didaktisch einleuchtend: Als Titel wird eine Gedicht- oder Romanzeile zitiert; es folgen die Lebensdaten; dann wird die Autorin in einem ca. zwei Seiten langen Text charakterisiert; ihr Werk und ihr Werdegang werden beschrieben. Es folgt eine eigens mit einem weißen Kreis gekennzeichnete Seite „Aus dem Werk“: Ein Gedicht oder ein Seite Erzählprosa werden zitiert. Dann folgt ein grauer Kreis: „Spurensuche“: Hier werden die Lebensorte der Autorin genannt; wo sie lebte und arbeitete; ob es z. B. ein Museum gibt; und ob noch ein Grab vorhanden ist. Dann folgt, ebenfalls von einem grauen Kreis umrahmt, „Hintergrund“: Hier wird ein Werk näher beschrieben oder eine prägende Beziehung. Auf der letzten Seite werden jeweils die Werke der Autorin aufgeführt, auch Neuauflagen, und Sekundärliteratur. Die Porträts sind jeweils zwischen zehn und vierzehn Seiten lang. Auf knappstem Raum werden zahlreiche Informationen übermittelt – und die Neugierde geweckt.
Beim Namen genannt werden auch die Hindernisse, die Schriftstellerinnen, die selbst etwas sein und bedeuten wollten, zu gewärtigen haben: Mache verschwanden hinter dem Werk „berühmter Männer“: Inge Müller zum Beispiel, die als Ehefrau von Heiner Müller bekannt ist, oder Margarete Steffin, Mitarbeiterin Bert Brechts, „deren eigenständige Arbeiten erst fünfzig Jahre nach ihrem Tod entdeckt wurden“. Oder Sophie Mereau, deren zweiter Ehemann Cemens Brentano „keine geistig freie Frau an seiner Seite ertrug und alles daransetzte, ihre Kreativität zu unterdrücken.“
Ich ergänze: Thea Sternheim (1883-1971), von deren Werk ihr Mann, Carl Sternheim, profitierte: Er las heimlich ihre Tagebücher, stahl ihre Ideen. Außerdem verschwendete er Theas großes Vermögen. 1927 ließ sie sich endlich von ihm scheiden. 2002 und 2011 wurden ihre Tagebücher (5 Bände) im Wallstein Verlag veröffentlicht und 2021 eine Biographie über sie.
Wir können uns bei jeder schöpferischen Produktion kritisch diese Fragen stellen: Wie würde es mir vorkommen, wenn dieser oder jener Text von jemand anderem geschrieben (Bild gemalt, Musik komponiert) wäre? Hält es die Aufmerksamkeit fest? Hat es immer noch menschlichen Wert? Oder sieht es dann aus, als hätte der/die Betreffende niemals von Klarheit, Kraft und Leichtigkeit gehört oder irgendeine Hilfe von Vor-Denkern erhalten? Ist es kriecherischer Singsang oder hat es „Muskeln“? Diese Fragen stellt die amerikanische Dichterin Marianne Moore, und von ihr können wir alle lernen.
Es geht, nehmen wir die Kulturleistungen von Frauen wahr, um eine Erweiterung der menschlichen Perspektive, des Blickwinkels. Und um noch mehr: um das wahre, das humane Gesicht menschlicher Kulturleistungen. Kulturelle Prinzipien müssen so lange verhandelbar sein, bis der Faktor „Geschlecht“ nicht länger Unrecht bedeutet.
Denn die Geschichte von Mann und Frau ist geprägt von Gewalt. Körperlicher, seelischer, geistiger Gewalt. Von der Gewalt des Ausschlusses weiblicher schöpferischer Leistungen aus einem kulturellen Wertekanon. Wir müssen ihn uns weiterhin zurückerobern, und dürfen uns auch von unseren eigenen Ängsten nicht ausbremsen lassen. Hierbei können uns zum Beispiel die von Iris Schürmann-Mock vorgestellten Schriftstellerinnen und Dichterinnen als Vorbilder helfen und ermutigen.
Wenn wir über „bedeutende Frauen“ sprechen wollen, wurde uns das lange Zeit als Hybris ausgelegt. Schöpferische Leistungen von Männern und Frauen werden unterschiedlich beurteilt, was Jahrhunderte hindurch zum Ausschluß weiblicher Kulturleistungen führte.
Alice Schwarzer in ihrer Streitschrift „Der große Unterschied. Gegen die Spaltung von Menschen in Männer und Frauen“: „Ich habe einen Traum. Ich bin eine Künstlerin. Hinter mir liegt eine stolze Tradition weiblicher Künstler. Aber das spielt keine Rolle mehr. Mein Werk wird an seiner Eigenheit und Qualität gemessen, nicht an meinem Geschlecht. Niemand erwartet von mir, daß ich vor allem ‚attraktiv‘ bin. Ich habe auch nicht Jahrzehnte auf meine Entdeckung warten müssen. Ich arbeite. Ich arbeite hart. Manchmal zweifle ich oder ich verzweifle, ganz wie mein Kollege.Ich bin eine Frau. Und Kreativität hat kein Geschlecht.“
Die Wirklichkeit: Wir haben „Highnoon im Geschlechterkampf“, und Träumen können wir uns immer noch nicht erlauben. Wir müssen kämpfen. Gegen die Reduktion des Menschen zur Frau oder zum Mann.
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Nicole Seifert, |