Anno Domini 2020 war es in der Tat hohe Zeit, eine Regionalgeschichte des 30-jährigen Krieges und seiner Folgen für Brandenburg zusammenzustellen. Viele Regionen waren vorangegangen, mal animiert von Jubiläen des Westfälischen, 1650 in Nürnberg vollendeten Friedens (so Bayern und Mecklenburg 1848, Osnabrück und Westfalen 1998) mal zur Erinnerung an Belagerungen, Eroberungen und Schlachten (so in Franken besonders die Region Mittelfranken um Nürnberg 1782, 1832, 1932 und 1982, aber auch Mainfranken mit Königshofen, Schweinfurt, Würzburg und Wertheim 1931). Die in den 1980er Jahren wiederholt erhobene Forderung schwedischer und finnischer Historiker nach stärkerer Berücksichtigung der deutschen Stadtarchive und der lokalhistorischen Literatur wurde 2006 in dem Sammelwerk „Europa i brand 1618–1648“ in dänisch-finnisch-schwedischer Kooperation ansatzweise verwirklicht.
Zwar gibt es bereits seit Langem lokale Darstellungen – teils im Volkston gehalten, teils mit dem Anspruch, haltbares Wissen zu schaffen – für einige Städte (Tangermünde 1651, Strausberg 1902, Arnswalde 1907) und Subregionen (Neumark 1902, Altmark 1904) Brandenburgs, doch musste man sich bislang häufig mit Bruchstücken von Aufzeichnungen örtlicher Augenzeugen behelfen, etwa aus Prenzlau, Sorau, Soldin und Bärwalde. Die inzwischen ausgegrabenen und in diesem Buch bekanntgemachten Chroniken von Prenzlau, Neu-Ruppin und aus der Uckermark festigen nun den Baugrund der brandenburgischen Regionalgeschichte.
Zum Mehrwert des hier angezeigten Buches tragen alle Beteiligten bei: die Ortshistoriker, die auf Regionen Fokussierten und die ‚Feldherren‘ unter den Professoren, die von ihrem jeweiligen Hügel aus das Ganze zu überblicken versuchen. Hier ziehen ‚alte Hasen‘ junge Talente mit. So kommt weder die von Kollenberg geforderte „kleinschrittige Fallanalyse“ (S. 127) zu kurz noch die Einordnung in größere Zusammenhänge. Der neue Ansatz klingt schon im Titel an und bläst frischen Wind in die Bücherregale: EUROPA. Tatsächlich brachte dieser Krieg den deutschen Bürgern und Bauern ja erstmals Fremde ins Haus, die man bis dahin kaum dem Namen nach kannte. Siebzehn Kriegsvölker zählen die Herausgeber in ihrer Einleitung auf. Unterteilte man diese genauer, so fände man allein aus Südosteuropa vierzehn weitere (Aladár Ballagi: Wallenstein‘s Kroatische Arkebusiere, 1883), und aus Nordosteuropa kämen noch die in deutschen Dokumenten mal „Fußländer“, mal „Moskowiter“ genannten Ingermanländer hinzu. Die Beiträge von Andreas Kappelmeyer, Michael Weise und Clemens Weißflog öffnen drei Fenster und lassen ‚Schweden‘, ‚Kroaten‘ und ‚Schotten‘ beispielhaft sichtbar werden. Die archivalisch auch in Brandenburg gut fassbaren Auftritte der ‚Finnen und Lappländer‘ bleiben in diesem Band noch unberücksichtigt. Sie würden, nähme man sie zur Kenntnis, überraschende Farbtöne und weiße Flecken in das gewöhnlich schwarzgraue, allenfalls von bürgerlichen Profiteuren aufgehellte Bild des Zusammenlebens von Einheimischen und Einquartierten bringen. Besatzer, die sich mit ihrer Portion Brot und Bier begnügen, Kirchenkleinodien gegen unbefugten Zugriff verteidigen und am Ende sogar bei der Feld- und Waldarbeit helfen – so der ‚Hofhistoriograph des Markgrafen Friedrich Wilhelm, Heinrich Sebald, 1655 in seinem „Breviarium Historicum“ – passen bislang nicht in das Bild dieses Krieges.
Es fällt auf, dass das Landeshauptarchiv in Potsdam von den Autoren fast gar nicht genutzt wurde. Es ist tatsächlich arm an Archivalien aus dieser Zeit. Immerhin enthalten doch zumindest die Bestände “Domstift Havelberg“ und „Stift Neuzelle“ Sachdienliches zum Thema. Ein Aufriss der Geschichte dieses Archivs, der die Gründe für die Lücken offenlegt, ist ein Desiderat.
Drei Potsdamer Professoren stecken eingangs Orientierungspfähle in das Themenfeld des Buches. Frank Göses interessanter Vergleich der Kurstaaten Bayern, Sachsen und Brandenburg lädt zur Vertiefung ein. Matthias Asche versucht eine Neubewertung des bis 1640 regierenden Kurfürsten Georg Wilhelm. Diese Neubewertung war überfällig angesichts der vielstimmigen negativen Urteile, die, ausgehend vom „Weltweisen zu Sanssouci“ (Friedrich II. von Preußen), bis ins 21.Jahrhundert andauern. Peter-Michael Hahn bringt die Stimmen der Stände zu Gehör, und zwar bis hin zum Prager Frieden der protestantischen Kurfürsten mit dem katholischen Kaiser 1635. Diese Stimmen aus dem ehemals Geheimen Staatsarchiv lassen an sich schon aufhorchen. Dass Hahn hierbei die bislang ungenutzten, schon um 1930 angefertigten Archivexzerpte eines früheren Forschers (Helmuth Croon) verwendet, schmälert sein Verdienst nicht. Vielmehr könnte seine Vorgehensweise dazu anregen, künftig auch die Nachlässe anderer Forscher und Sammler wie etwa diejenigen von Arvi Korhonen in Helsinki, Familie de la Gardie in Lund, Jacob Westin und Elias Palmskiöld in Uppsala und Alexander Erskein in Stade verstärkt zu nutzen.
Es gibt an diesem facettenreichen Buch wenig auszusetzen. Zu bedauern ist nur die stiefmütterliche Behandlung der Neumark. Die dortige lokale Literatur und das Archiv von Landsberg an der Warthe – seit 1945 Gorzow Wielkopolski – hätten schon Einiges zu bieten. Auch die 1642 in Hamburg(!) gedruckte Philippika des Landesberger Pfarrers Neoritius gegen das dortige Besatzungsregime wäre es wert, ans Licht gezogen zu werden. Sie endet mit dem Aufruf: „Ja, Domini Soltati, quis vobiscum? Der Contributions- und Saufteufel (...). Darum machet's fein, lebet christlich, machet Friede“ (H.A.B. Wolfenbüttel, 508.10 Theol., Stück 23).
Vielleicht steht ein zweiter Band zum Thema „Halb Europa in Brandenburg“ in Aussicht?