Franziska zu Reventlow
Eine Biografie

Walter Fritz nannte sie einen „Gladiator der neuen Zeit.“ Rainer Maria Rilke, einer ihrer zahlreichen Freunde und Bewunderer, erklärte: „Ich finde, daß ihr Leben eins von denen ist, die erzählt werden müssen.“ Und Leonhard Frank, Würzburger Schriftsteller, den es für einige Jahre nach München verschlug, beschreibt in seiner romanhaften Autobiographie „Links wo das Herz ist“ die literarische „Szene“ um das Café Stephanie und den legendären Kellner Arthur, der auch verarmten Möchtegern-Künstlern und verkrachten Existenzen einen Kaffee spendierte, und die „Entourage“ „dieses Boheme-Cafés, wo die Schablonen des Lebens gründlich zerstört und beseitigt wurden“: „Die verarmte Gräfin Reventlow, klein, schmal und noch elegant gekleidet, die später ein heiteres Buch über ihre Liebeserlebnisse veröffentlichte, trat ein und winkte. Sie hatte nach dem Sturz in die Armut ihre Heimat in der Boheme gefunden und lächelte seither ruhig ihr: Komme, was kommt.“

Leonhard Frank wurde einige Jahre später ein erfolgreicher Autor, während viele seiner Münchner Gefährten untergingen; zwei begingen Selbstmord. Die Armut hatte sie körperlich und seelisch zugrundegerichtet.

Die Szenerie um das berühmte Café Stephanie in „Wahnmoching“ (eine Wortprägung von Franziskas zu Reventlows Sohn Rolf über die Literaten- und Künstlerszene Münchens) ist heute nur noch von historischem Interesse, doch einige ihrer Akteur/inn/e/n werden neuerdings intensiv wahrgenommen – und sei es um ihres rebellischen, widerständigen Verhaltens willen.

Korrekt hieß sie Fanny Liane Wilhelmine Sophie Adrienne Auguste Comtesse zu Reventlow und ihre Lebensdaten sind identisch mit denen des preußischen Kaiserreiches: 1871 bis 1918. In Franziska zu Reventlows Kindheit fallen Bismarcks Kulturkampf, die Sozial- und Sozialistengesetze. Traditionelle Moralvorstellungen hatten Hochkonjunktur, man legte Wert auf Ordnung, Fleiß, Autorität und Gehorsam.

Doch „dieses Reich und seine tragenden Säulen hat sie immer verachtet. Das Militär, die Bürokratie, die Aristokratie, den geld- und fortschrittsgläubigen Gründergeist – sie fand das lächerlich“, schreibt ihr immer noch hervorragendster Biograph, Helmut Fritz, 1980. Der Titel seines schmalen, intensiven Buchs, Die erotische Rebellion, fasst die Art der Widerständigkeit der Gräfin in die Nussschale einer Definition: Der „Geist des Aufruhrs“, den ihr die strenge Pröbstin, Elisabeth Gräfin von Zedlitz-Trützschler, Leiterin eines Stifts für schwererziehbare „höhere Töchter“, bescheinigte, charakterisiert ihr Leben: ihre Verweigerung gegenüber vorgefertigten Definitionen, wie eine „richtige Frau“ zu sein hat. Ihre Rebellion war in der Tat vor allem eine erotische: Das war zu dieser Zeit unerhört.

Sie selbst schreibt am 30. April 1890 in einen Brief: „Sie machen sich gar keinen Begriff, wie mit solchen unglücklichen Backfischen verfahren wird [...]. Sie sollen gewaltsam in eine Schablone gepreßt werden, was dabei herauskommt, können Sie an den Durchschnitts-jungen Mädchen und Frauen sehen, ungebildete, bleichsüchtige, spitzenklöppelnde, interessenlose Geschöpfe.“ Und: „Die weibliche Erziehung ist das Unsinnigste, was es gibt.“

Die Schülerin in der Zwangs-Anstalt legt sich mit allen und jeder an; an die Tür ihres Schranks schreibt sie: „Ich habe nie das Knie gebogen – den stolzen Nacken nie gebeugt. 17. Februar 1885.“ Da war sie vierzehn Jahre alt.

Natürlich konnte sie da noch nicht wissen, dass genau diese Bemerkung gewissermaßen zum Motto ihres Lebens wird und sie charakterisieren wird.

Dass Sie uns Heutige offenbar zunehmend fasziniert – abzulesen an der Zahl der Biographien, einer fünfbändigen Werkausgabe im Oldenburger Igel-Verlag (im Jahre 2004) und eines Romans über sie – sagt indes weniger über Franziska zu Reventlow (wie sie sich immer nennen wird) aus als eher über uns selbst: Die Gräfin, eine Gestalt der Münchner Künstler/innen/szene, „Königin der Boheme“ genannt, war Virtuosin der freien Liebe, Avantgardistin der Alleinerziehenden, Vorläuferin des modernen intellektuellen Prekariats und nicht zuletzt eine immer noch unterschätzte Schriftstellerin (obwohl sie sich selbst nicht so sah: „Schreibende Frauen, schrecklich“). Man hat in ihr die Urgroßmutter der sexuellen Revolution gesehen – dabei aber den Preis übersehen, die sie für ihre Freiheit zahlte. Denn Freiheit ohne Geld, was ist das – Seelenschinderei, Leben im Göpel. Und schinden musste sie sich, um zu überleben, um ihren Sohn zu ernähren (sie zog in München mindestens dreißig Mal um, da oft ohne Geld: das heißt, für ihre Übersetzertätigkeit miserabel bezahlt). „Es ist immer empörend für eine Frau, wenn das äußere Dasein sich nicht angenehm und schmerzlos abwickelt.“ Sie hasste arbeiten: „Beruf ist etwas, woran man stirbt.“ Sie träumte davon, frei und ungebunden leben zu können – vor allem erotisch ungebunden. In ihren Augen war die Frau vor allem für das schöne, leichte Leben geschaffen, sie sollte sich nie anstrengen müssen – was wiederum nur einer Besitzerin eines großen Geldbetrags gelingen kann.

Franziska zu Reventlow, dem biederen, adelsstolzen Elternhaus und der lieblosen Internatserziehung in die Boheme entlaufene „höhere Tochter“, konnte die genormte Pfahlbürgerexistenz nicht ertragen. Allein schon die bürgerliche Ehe, die für sie mit Zwang, Engherzigkeit, Intoleranz und dem Terror täglicher Intimität verbunden war, kann sich die Gräfin einfach nicht vorstellen: „Höchstens eine Distanzehe mit sehr viel Geld, so dass jeder seinen eignen Flügel bewohnt, seinen eigenen Train und seinen Verkehr für sich hätte. Zu den Mahlzeiten träfe man sich in großer Toilette und mit vielem Zeremoniell, will er mich außerdem noch sehen, so läßt er sich durch seinen Kammerdiener melden: Der gnädige Herr läßt fragen, ob sein Besuch heute abend angenehm wäre? – Der gnädige Herr ist immer willkommen.

Habe ich Gäste, die sich für ihn eignen, so lade ich ihn ein. Seine Stellung als Hausherr wird dann natürlich betont, er dürfte nie kompromittiert werden – kompromittierter Ehemann ist geschmacklos und unmöglich. Und hat er Besuch, so mach ich auf Wunsch in seinen Räumen die Honneurs. Das wäre die einzige Möglichkeit, auf die ich heiraten möchte.“

„Eine Frau in Geldschwierigkeiten“ war für sie immer „wie ein Bild, das schlecht gerahmt ist und am unechten Platz hängt“.

Sie war der Überzeugung, dass die Frau fürs Arbeiten nicht geschaffen sei, nicht für den Kampf des Daseins gemacht, sondern zur Leichtigkeit, zur Freude und Schönheit. „Wir sind dazu da, es gut zu haben und uns nicht beklagen zu müssen.“

Die Existenz der Hetäre ist für die Gräfin durchaus eine akzeptable Lebensform – im Unterschied zu der der Ehefrau: „Die Hetären des Altertums waren freie, hochgebildete und geachtete Frauen, denen niemand es übelnahm, wenn sie ihre Liebe und ihren Körper verschenkten, an wen sie wollten und so oft sie wollten, und die gleichzeitig am geistigen Leben der Männer mit teilnahmen.“

Nein, eine frühe Feministin war sie nicht. Dafür war sie zu eigenwillig. „Politische Emanzipation, Frauenwahlrecht, die Frau im Staat – das scherte sie wenig. Aber sie hatte eine individuelle Vorstellung von Freiheit – und lebte danach. Dabei kam sie ganz ohne Programme und Theorien aus“ (Helmut Fritz).

Aber ob sie eine „Frau von heute“ ist, wie der Klappentext der neuen Biographie von Kerstin Decker vollmundig erklärt, ist mir zu pauschal, zu eindimensional und zu plakativ formuliert. Aber erfreulicherweise ist das Buch Deckers dann weitaus besser als der Klappentext suggeriert.

Kerstin Decker, bekannt u. a durch eine etwas konfus und strukturlos wirkende Else-Lasker-Schüler-Biographie (Mein Herz – niemandem. Das Leben der Else Lasker-Schüler; 2012), hat sich mit ihrer Biographie der „schleswig-holsteinischen Venus“, wie Oskar Panizza sie nannte, eingeschrieben in die Phalanx fähiger Biograph/inn/en, sie ist keineswegs „eine unter vielen“, auch wenn die „Konkurrenz“ groß und keineswegs unbedeutend ist: Helmut Fritz, in seiner Kürze und Knappheit und dabei ungeheuer informativ – bleibt unübertroffen. Spekulative Innenschau, bewährte „Methode“ mancher Autor/inn/en von Romanbiographien (und auch mancher Biographien), ist ihm fremd; in seinen Augen wäre es einfach unseriös, eine respektlose Form der Nähe. Helmut Fritz punktet mit geschickt ausgewählten Zitaten, die ein Schlaglicht auf den Charakter der Gräfin werfen. „Lebenstaumel“: Ein Lebensmotto Reventlows. Ausführlich beschreibt Fritz die Altschwabinger Feste. Franziska zu Reventlows Leben, ihre z.T. fürchterlichen Geldprobleme stehen lebendig und bedrückend vor uns (Gerichtsvollzieher kommen, nehmen die „Glanzgewänder“ fort; nur im Krankenhaus wird sie nicht von ihnen verfolgt) ebenso wie ihre häufigen Erkrankungen. Die dritte Bauchoperation wird sie sich nicht überleben.

Es folgen 1995 die etwas romanhaft wirkende Biographie von Franziska Sperr (Die kleinste Fessel drückt mich unerträglich. Das Leben der Franziska zu Reventlow) und 2008 die Biographie von Gunna Wendt (bekannt u. a. durch Biographien Clara Rilke-Westhoffs und Paula Modersohn-Beckers), Franziska zu Reventlow. Die anmutige Rebellin. Doch wirkt Wendts Arbeit etwas bieder-altbacken im Vergleich zu Tempo und Esprit Deckers. Diese hat eine Zugangsweise, die man im 18. Jahrhundert „witzig“ nannte – damit ist nicht „lustig“ gemeint, sondern mit Geist, Esprit.

Das erste Kapitel, „Die Seiltänzerin“ genannt, macht uns mit dem Internatszögling Fanny bekannt: „Nie ist man mehr allein als unter Menschen. Niemand nimmt sie wahr, keine spricht mit ihr. Die Strafe heißt silence. Von morgens bis abends führen ihre Mitschülerinnen den Beweis, dass es Fanny zu Reventlow aus Husum an der Nordsee, fünfzehn Jahre alt, gar nicht gibt.“

Ein fulminanter Einstieg!

Fanny „streikt“, lässt sich nicht erziehen, nicht verbiegen, nicht kleinmachen: Sie heult jede Nacht wie ein Wolf, macht das Internat verrückt. Es folgt eine „schandebedeckte Heimkehr“ – sie wird es wohl nicht so empfunden haben.

„Sie ist natürlich nicht freiwillig hier, keine ist freiwillig hier. Dieses Institut, gegründet im Geiste des deutschen Pietismus, hat sich der Aufgabe verschrieben, aus den höheren protestantischen Töchtern des Reichs Mädchen zu formen, die diesen Namen nicht zu Unrecht tragen. Höhere Töchter? Höher, das heißt vor allem tot. Je toter, desto höher. Niemand verfügt über weniger Begabung zur höheren Tochter als die wölfische Fanny.“

Die Mutter, Emilie Gräfin zu Reventlow, geb. Gräfin zu Rantzau, war eine kalte Frau. „Höchstwahrscheinlich ist ihre Mutter aber gar nicht ihre Mutter, und sie wird bei einer völlig fremden Familie groß. Fanny entnahm diese Ansicht dem Betragen der kühlen Frau. Wäre ihre Mutter wirklich ihre Mutter, müsste sie dann nicht auch zu ihr so liebevoll, so nachsichtig, so anerkennend sein wie zu ihren Brüdern?

Niemand unter den Geschwistern [es waren insgesamt sechs Kinder, die Verf.] bezog so viel Prügel wie Fanny, nicht einmal die Hunde.“

Immerhin gelingt es ihr, den Vater dazu zu bewegen, dass sie Lehrerin werden darf – etwas Ungeheuerliches: „[...] der Adel lässt seine Töchter nicht arbeiten, es käme einer Selbstdenunziation gleich. Der Adel ist nicht auf der Welt, um zu arbeiten. Schon das ist kaum noch durchzuhalten, Die Töchter des Adels sind auf der Welt, um die Nichtarbeitenden der Zukunft zu gebären. Auch das ist kaum noch durchzuhalten, aber die Von-und-zu wären die Letzten, das noch zuzugeben. Es ist also ein sehr, sehr langer Schatten, über den Franziskas Vater schließlich gesprungen ist.“

Die Ausbildung als Lehrerin wird es ihr ermöglichen, den Sohn Rolf selbst auszubilden („Schritte getan, Bubi von der Schule loszukriegen – muß ihn ganz für mich haben, daß mir das schöne gerade Bäumchen nicht verkrümmt wird.“ Ihre Sorge war berechtigt: Der wilhelminische Obrigkeitsstaat war ein Staat des Drills, des Brechens von Kindern; man war nur an Gehorsam, an „Funktionieren“ interessiert).

Franziskas erster Ausbruch aus der beengenden Familie endet ausgerechnet – in einer Ehe. Mit einem Gerichtsassessor. Die Ehe zerbricht bald. Von da an: Boheme, Absturz in die finanzielle Misere. Die nächsten fünfzehn Jahre werden brutal: „Sie ist fest entschlossen, eine Zukunft zu haben.“ Aber diese Zukunft entwischt ihr immer wieder. Sie versucht es mit Übersetzen, Glasmalerei (ein Flop), mit einem Milchgeschäft (Flop), mit diversen „Begleitdogen“ d. h. Liebhabern, die sie aushalten; um sich und ihr Kind durchzubringen, arbeitet sie bei „Madame X.“ Heute würde man sie „Hostess“ nennen, vielleicht auch „Callgirl“.

Es ist ein rasantes Leben, aber nur scheinbar auf der Überholspur; ihre Krankheiten machen ihr immer wieder einen Strich durch die Rechnung. – Das ist aber auch angenehm: „Auferstehung von den Beinahe-Toten. Die ersten Schritte durchs Krankenzimmer wie bei starkem Seegang. Umsorgtwerden. Selbst Kind sein dürfen. Ärzte und Schwestern als Ersatzfamilie. Zur Ruhe kommen.“

Über das Schriftstellerinnen-Dasein Franziska zu Reventlows schreibt Decker: „Andere schreiben für die Ehre, sie schreibt für Geld. Und dafür, bald gar nichts mehr tun zu müssen.“ Daraus wird nichts.

Über Reventlows Buch Der Geldkomplex. (Meinen Gläubigern zugeeignet) schreibt Decker, Reventlow habe zum Geld, „solange sie denken kann, ein Verhältnis größtmöglicher Herablassung kultiviert [...], was auf Gegenseitigkeit beruhte. Franziska zu Reventlow schreibt den Roman ihrer lebenslangen strukturellen Insolvenz, Erbschaft und Bankenkrach inklusive. [...] Sie verachtete das Geld. Das Geld verachtete sie. Ja, es war eine lang erprobte Beziehung.“ Es kam „der Tag, an dem ihr die gewohnte Weltwahrnehmung schwand und zahlenförmig wurde. Eine „spontane Selbstheilung“ sei nur möglich, wenn ihr „eine erhebliche Erbschaft in Aussicht“ stünde.

Ein Berufswunsch der Gräfin, chronisch klamm, aber abenterlustig: Der Messerwerfer, den sie kennengelernt hatte, „bot ihr an, ihn auf seiner Welttournee zu begleiten: als Ziel. Jeden Tag würde er die Umrisse ihres Körpers mit fliegenden Klingen neu erkunden. Ein Leben auf Messers Schneide, nein, auf vieler Messer Schneide! Mag sein, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit in anderen Berufen höher liegt, doch sie konnte sich nicht erinnern, dass ihr jemals eine attraktivere Stelle angeboten wurde.“

Oder, wie Ingeborg Bachmann über Maria Callas schrieb: Ein Leben auf der Rasierklinge.

Und was für ein Leben! Und was für ein Mut! Als Role Model, als Vorbild taugt es indes nicht. Nein, das ist kein paradigmatisches Leben – aber ein singuläres, häufige Wohnungslosigkeit und Geldnot inklusive.