Das Lehnswesen in Deutschland im hohen und späten Mittelalter

Seit einigen Jahren ist das Kompendium, die Handreichung und konzentrierte Darstellung von Wissenfeldern und Forschungsdiskussionen en vogue. Dies ist auch für die Geschichtswissenschaft zu beobachten. Die universitäre Forschung macht angesichts zunehmend komplexer und immer umfangreicher werdender Zusammenhänge deutliche Schritte auf die Lernenden im Sinne einer Didaktisierung der Diskussionen zu, indem sie die Komplexität eines Forschungsproblems reduziert und/oder verständlich darlegt. Damit gehen nicht zuletzt auch entsprechende Quellenpublikationen einher. So sind in den letzten Jahren mehrere Reihen neu herausgegeben worden, in deren Intention sich vorliegender Band einreiht.

Mit Karl-Heinz Spieß wurde einer der renommiertesten Vertreter der jüngeren Forschung zu diesem Thema gewonnen, was sich in der Qualität des Bandes bemerkbar macht. Spieß gliedert seinen Darstellungsteil in vier Abschnitte, von denen der erste in den Begriff, den Gegenstand und die Forschungsgeschichte einführt. Nach dieser abstrakt-analytischen Herangehensweise wird die „Lehenspraxis“ dargestellt und die Vergabe und Formen des Lehens beschrieben. Diese phänomenologische Betrachtungsweise wird durch eine problemorientierte Perspektive ergänzt, die sich mit den Möglichkeiten und Grenzen königlicher Lehensherrschaft und dem Lehenswesen in Territorien auseinandersetzt. Letzteres führt zur Frage nach der Funktionalität der Lehensbindung für den Auf- und Ausbau fürstlicher Landesherrschaft, gerade auch im Hinblick auf die Integration der alteuropäischen Adelsgesellschaften in die neu entstehenden Herrschaftsräume und -formen. Damit verdeutlicht der Verfasser die Verschränkung zwischen einem Herrschaftsphänomen als intendiertem Herrschaftsinstitut und seiner praktischen Umsetzung unter den „natürlichen“ soziopolitischen Umweltbedingungen – ein Umstand, der um so mehr hervorzuheben ist, da er bei Schülern und Studierenden nicht genug herausgestellt werden kann, um einerseits die Abstraktheit verfassungsrechtlicher bzw. verfassungsgeschichtlicher Analysebegriffe zu vermitteln, andererseits um auf die Bedeutung von Sozialbeziehungen bei der alteuropäischen Herrschaftsbildung hinzuweisen.

Im Quellenteil bietet Spieß dem Leser 67 Quellen, von denen etwa zwei Drittel aus dem Spätmittelalter stammen. So erfreulich diese Heraushebung des Spätmittelalters ist, so bedauerlich ist es, daß der Verfasser die provokanten Thesen von Susan Reynolds nicht zum Anlaß genommen hat, um intensiver – als nur kurz auf Seite 56 – die Entwicklung des Lehnswesens in der beginnenden Frühen Neuzeit zu thematisieren. Positiv ist hervorzuheben, daß die Quellen die Charakteristika des Lehenswesens widerspiegeln, dabei jedoch nicht nur illustrieren, sondern auch zur Problematisierung, Interpretation und Diskussion des Gegenstandes und der Forschungsthesen anregen. Gleiches gilt für den dritten Abschnitt, in dem die elf wichtigsten Thesen der Forschung seit Heinrich Mitteis präsentiert und die jeweiligen Standpunkte anhand entsprechender Passagen markiert werden. Eine umfangreiche Bibliographie schließt die Veröffentlichung ab.

Das Bemühen um den Leser ist ein herausragendes Charakteristikum dieses Kompendiums. Der Leser kann sicher sein, instruktiv in die Thematik eingeführt zu werden und nach der Lektüre mit dem Thema umfassend konfrontiert worden zu sein. Ebenso positiv ist der stete und nachdrückliche Verweis auf die Problematik der Verabsolutierung der Umgangspraktiken, auf die daraus resultierende Relativierung strukturanalytischer Begriffe – wie etwa „das“ Lehnswesen –, auf den Zwang zur Beachtung des Einzelfalls und auf die regionalen Verschiedenheiten.

So positiv dieses Kompendium zu beurteilen ist, so wenig kann es einen Anspruch der Herausgeber der Reihe erfüllen: sich nicht nur an Studierende, sondern „auch an Leistungskurse der gymnasialen Oberstufe als Abnehmer“ (S. 12) zu wenden. Vorliegende Publikation erfüllt zwar die hierfür zwingenden Maßstäbe, nur dürfte der Mangel auf der „Abnehmerseite“ nicht zu beheben sein: Das Mittelalter ist – ebenso wie die Frühe Neuzeit – nicht der Gegenstand der Jahrgangsstufen 12 und 13, die die Moderne seit der Französischen Revolution thematisieren. Dies kann nicht dem Autor oder den Reihenherausgebern angelastet werden, weist aber auf die weiterbestehende und immer drängender werdende Problematik einer sich im rasanten Wandel befindlichen (Aus-) Bildungslandschaft hin, deren Lehrer sich auf allen Ebenen noch viel stärker aufeinander zu bewegen müßten. Die notwendige Kernreform der deutschen Universität böte hierfür einen weiteren Ansatzpunkt.