Macht des Wissens
Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft

Bildungsexpansion und die Ansicht, Wissen und Bildung korrespondiere mit Macht und Machtausübung, schafften und sicherten Wohlstand und Arbeitsplätze, sind seit einigen Jahren zu argumentativen Topoi der politischen Auseinandersetzung in den europäischen Gesellschaften geworden, die sich auf höchstem Niveau gegenüber den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts abzusichern wünschen. Galt in den sechziger und siebziger Jahren der Ausbau des Bildungswesens noch als Akt der Verwirklichung des ‚Mehr-Demokratie-Wagen‘ im Sinne der Schaffung größerer Chancengleichheit, so erweist sich das neu dynamisierte Interesse an Bildung heute als eine Facette des gleichsam europäisch-deutschen Überlebenskampfes in einer globalisierten Welt der allesfressenden Wirtschaftsheuschrecken. Im Zuge der bildungspolitischen (Wieder-?) Aufrüstung der bundesrepublikanischen Gesellschaft hat die in diesem Kontext eher als Randerscheinung figurierende, weil gegenüber den scheinbar allein zukunftsweisenden Technologiewissenschaften wenig dynamisch erscheinende Geschichtswissenschaft eine funktionale Nische entdeckt und besetzt: die Bildungsgeschichte, die freilich zu den angestammten Forschungsfelder der Historiographie zählt. Sie muß in der Tat um so mehr interessieren, wenn man von führender Seite der Industrie das Lernen aus der Fehlern der Vergangenheit und von führender Seite der Politik die Rückbesinnung auf die Stärken des deutschen Bildungswesens anmahnt. Der vorliegende Sammelband stößt damit in eine echte Marktlücke, insofern er ein breites Lesepublikum anspricht und dabei gezielt auf den Horizont der möglichen Rezipientengruppe eingeht. Denn wen interessieren heutzutage nicht Fragen der Bildungskonzeption, der Formulierung eines bestimmten, als notwendig erachteten Wissensbestandes, aber auch der Leistungsfähigkeit der Medizin und der Mediziner oder die Bedeutung der Naturwissenschaften in einer von Energiegewinnung und -bewirtschaftung abhängigen oder von Gentechnik bereits nachhaltig beeinflußten technologisierten Welt?
Die Herausgeber haben die 28 überwiegend reich illustrierten Beiträge renommierter Historiker in sechs Phasen gegliedert, in die sich die als Strukturprozeß verstandene Entstehung der modernen Wissensgesellschaft gliedert. Demnach folgt auf den Aufbruch in der Renaissance (1450-1580) mit ihren neuen Ansichten und ihrer Infragestellung traditionaler Bildungseliten die wissenschaftliche Revolutionsphase (1580-1660), die von einer Zeit der Repräsentation und Ordnung des neuen Wissens (1660-1730) als Ruhephase abgerundet wurde, eher sich mit der Popularisierung des neuen Wissens und neuer Wissenschaften in einer Phase der praktischen Aufklärung (1730-1780) die Bildungsgeschichte neu dynamisierte und schließlich in den Beginn des modernen Wissenschaftszeitalters (1780-1820) mündete. Im Vordergrund dieser Darstellungsweise interessiert die Erklärung der Moderne. Die Wissensgesellschaft wird also als gegeben angenommen ' eine Annahme, die für die Komposition des Werkes fundamental gewesen zu sein scheint und sich in den behandelten Wissensgebieten niederschlägt. Hierbei stehen die Naturwissenschaften und die ihnen artverwandten Wissensgebiete im Fokus. Die Forschungsfelder, Arbeitsmethoden, Theorien und die Stellung der mathematischen, physikalischen, astronomischen Wissenschaften werden intensiv behandelt und verständlich dargelegt. Unvermeidbar tauchen hierbei immer wieder die Namen und Theorien eines Kopernikus, Kepler, Galilei, Bacon und Newton auf. Ähnlich intensiv werden die soziale und wissenschaftliche Position der Ärzte, ihre Methoden, ihr Berufsprofil und ihr Einfluß untersucht. Gleichermaßen interessieren die Vernetzungsprobleme von wissenschaftlicher Theorie und Alltagspraxis angesichts einer von ständischem Denken und Aberglauben geprägten alteuropäischen Welt, aber auch deren gegenseitige Bezogenheit. Ein weiteres über die gewählte Epochierung gestrecktes Feld ist die Organisation und Verbreitung von Wissen anhand von Büchern, Bibliotheken, Enzyklopädien und anderen Medien wie Flugblättern oder Lesezirkeln. Schließlich wird auch die Frage behandelt, wer überhaupt an Wissen, Wissensvermehrung, Wissenschaft, Forschung und deren Realisierung ein Interesse hatte, wer dies förderte und an welchen sozialen Orten dies geschah.
Die Fülle an Aspekten könnte weitergeführt werden. Dabei wird mit manchem Vorurteil aufgeräumt, das zwar wissenschaftlich bereits seit langem aus der Welt, nicht aber aus den Köpfen bspw. vieler Schüler und Lehrer ist. Aufgrund des gewählten Ansatzes, einen Entstehungsprozeß in vielseitigen Aspekten darzustellen, vermögen die Autoren dem Leser in didaktisierter Form einen ganz wesentlichen Hinweis für das Verständnis unserer Welt und ihrer Möglichkeiten zu geben: Die Moderne ' auch die der sogenannten modernen Wissensgesellschaften ' entstand nicht plötzlich. Selbst die beschriebenen Dynamisierungsphasen erstreckten sich über Jahrzehnte. Die Frühe Neuzeit ' von den Herausgebern geglückt als Epoche zwischen der Mitte des 15. und den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts verstanden und so auch in Szene gesetzt ' war mit all ihren Wandlungs- und Bruchfacetten eine notwendige, nicht bloß hinreichende Voraussetzung der Moderne. Wissen und Verbreitung von Wissen in die Tiefe und Breite sind langfristige Vorgänge, die keineswegs ad hoc zu realisieren waren und sind, und ihre wirklich wirkmächtigen Ergebnisse waren und sind lediglich die Spitze eines viel größeren Wissens- und Forschungsberges.
Freilich gilt es an dieser Stelle wenigstens zwei kritische Anmerkungen zu machen: Zwar wird zum einen in der Einleitung für die nachfolgenden Beiträge des Sammelbandes der Entwurf einer Kulturgeschichte des frühmodernen Wissens als Ziel avisiert und als deren Richtschnur die neueren Ansätze von anglo-amerikanischen Wissenschaftshistorikern angeführt. Doch solche Ansätze eines ' in der Einleitung hierfür ausdrücklich und mit Recht benannten ' Mario Biagioli werden in den Beiträgen keineswegs stringent verfolgt. Nicht selten verbleiben die Autoren bei ihrer Darstellung auf der Ebene der Erläuterung des Theoriengebäudes eines frühneuzeitlichen Forschers. Deshalb wird der Zusammenhang zwischen der Macht des Wissens, der Stellung der Forscher bzw. Wissenschaftler und der sie stimulierenden oder aus ihr resultierenden sozio-politischen Macht nicht immer deutlich. Biagiolis Ansatz, die Rückbezüglichkeit der Relevanz von Wissenschaft und der Relevanz der (politisch-sozialen) Macht aufzuzeigen, spiegelt sich darin nur teilweise wider.
Gerade in diesem Zusammenhang muß es zudem auch verwundern, wie einseitig die Bedeutung der Naturwissenschaften herausgehoben wird, dagegen die Rolle der Geisteswissenschaften ' insbesondere die der Jurisprudenz und Theologie ' weitgehend unberücksichtigt bleibt, obwohl noch in der Einleitung auf ihre Relevanz hingewiesen wird. Diese Schieflage mag aus der Perspektive des in den Blick geratenen Rezipientenkreises vertretbar erscheinen, insofern sie dem modernen Bildungs- und Wissenschaftsempfinden entspricht. Nur entspricht es keineswegs der Vielfalt gesellschaftsrelevanter Wissenschaftszweige Alteuropas und hätte ' in Anknüpfung an den zuerst genannten Kritikpunkt ' die interdependente Verknüpfung von Wissensformationen und Wissenschaftstheorien einerseits und sozio-politischen Bezugsfelder andererseits deutlicher werden lassen können. Zugleich fördert diese Konzeption ein Wissenschaftsempfinden, das sich allzusehr auf die Naturwissenschaften konzentriert, deren Abhängigkeit von den anderen, teilweise erst sinngebenden Basiswissenschaften jedoch außer acht läßt. So gesehen entspricht etwa die Auslassung der Entwicklung der theologischen Wissenschaften einem allgemeinen epistemologischen Problem der Moderne, obwohl der moderne Mensch mehr denn je nach Sinn sucht, aber eben nach einem Sinn jenseits wissenschaftlicher Rationalität, die alles zu ergreifen erscheint ' womit der Bogen zu den Problemen der Volksaufklärung des 18. Jahrhunderts ebenso zurückgeschlagen wäre wie zu der Frage, was eigentlich Wissen ist und wie es sich entwickelt.
Die großartige Leistung der Herausgeber und der Autoren bleibt trotz dieser Einwände unberührt. Die 'Macht des Wissens' ist eine echte Bereicherung für jeden Interessierten. Es war Richard van Dülmens letztes Werk. Er starb bei dessen Vorbereitung. Sina Rauschenbach und Meinrad von Engelberg haben dankenswerter Weise gut daran getan, es nicht unvollendet bzw. ungedruckt zu lassen. Es dürfte nicht nur für historisch interessierten Nicht-Wissenschaftler zu einem Standardkompendium avancieren.