Denkwelten um 1700
Zehn intellektuelle Profile

Die Herausgeber präsentieren in diesem Band zehn intellektuelle Profile, die nicht zufällig oder ausschließlich ihrem Renommee entsprechend ausgewählt wurden. Für alle zehn Protagonisten ist gemäß den einleitenden Bemerkungen der Herausgeber charakteristisch, daß ihr zentrales Werk, das jeweils in den einzelnen Beiträgen vorgestellt und analysiert wird, bereits von den Zeitgenossen als bedeutsam im Sinne von bewundernswert oder auch anstößig bzw. verdammenswert empfunden wurde. Allen zehn 'Denkern' attestieren die Herausgeber eine gemeinsame Art der Denkstruktur, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und am Beginn des 18. Jahrhunderts die Tradition hinter sich ließ, insofern kulturelle Grenzen übersprang und den Widerspruch zu bzw. den Konflikt mit den Zeitgenossen erzwang. Kritik, Reflexion und rationales Denken verbindet demnach die vorgestellten Intellektuellen aus halb Europa und unterschiedlichen 'wissenschaftlichen' Disziplinen, aber auch ihre Einbindung in traditionale Lebens- und Denkwelten, die sie zwar hinterfragen, die sie aber nicht zerstören wollten. Der gewählte interdisziplinäre Ansatz soll nach dem Wunsch der Herausgeber neue Sichtweisen eröffnen.
Isabella v. Treskow zeichnet anhand des 'Historisch-Kritischen Wörterbuchs' des Pierre Bayle die 'Entstehung der Kritik' vor dem Hintergrund eines noch geringen Verbreitungsgrades des Cartesianismus nach. Die mit Bayle akzelerierte theoretische Verwissenschaftlichung des Denkens durch eine Entmythologisierung der Erklärungsmuster, die Relativierung der Dinge und ihrer Ursachen sowie das Eintreten für einen ' von Bayle als obligatorisch empfundenen ' Streitdiskurs steht im Mittelpunkt. Bayles Postulat der Vernunft des Subjekts, die eine solche Verwissenschaftlichung ermöglichen sollte, fand seine Grenze beim Glauben, schloß dagegen das Politische ausdrücklich mit ein und wurde nicht zuletzt auch dadurch anstößig.
Bayle hinsichtlich der Wertschätzung der intellektuellen Auseinandersetzung ähnlich stellt Richard van Dülmen die dialogische Philospohie des Gottfried Wilhelm Leibnitz dar. Zwar trat er nicht wie Bayle für einen 'Krieg der Federn' ein, doch auch für ihn bestand der Kern jedweden Fortschritts des Individuums wie auch der Menschheit in der Auseinandersetzung des Einzelnen mit seiner Umwelt, in der Bereitschaft und Fähigkeit zur Kritik, insbesondere auch die Fähigkeit und Bereitschaft sich kritisieren zu lassen. Demnach konnte das Begreifen der Welt für Leibniz immer nur unvollständig sein. Gleichwohl war solche Relativität des Erkenntisfortschritts aufgrund der geschilderten Paradigmen das zentrale, keineswegs negative Element seiner Philosophie.
Genaugenommen weiträumiger, wenn auch weniger theoretisierend übte Alain-René Lesage massive Gesellschaftskritik. Annette Keilhauer zeichnet anhand seines Romans 'Der hinkende Teufel' das Bild eines Schriftstellers nach, der sich aus den traditionellen ökonomischen und sozialen Abhängigkeitsverhältnissen lösen und seinem Lesepublikum einen Spiegel vorhalten wollte. Dabei ging es ihm nicht um eine moralische Gesellschaftskritik in traditioneller Manier, sondern um die systematische Aufdeckung der Fehler, Schwächen, Falschheiten der menschlichen Natur und der zeitgenössischen Gesellschaft, die der Leser selbständig erkennen sollte. Das Publikum sollte demnach in diese 'Detektivarbeit' eingebunden, zur aktiven Interpretation seiner Gegenwart animiert und zur individuellen Positionsbestimmung gezwungen werden, um die Kritik einleuchtender und nachhaltiger werden zu lassen.
Wie stark die Einbindung der vorgestellten Denker in die intellektuellen und sozialen Welten ihrer Gegenwart war, zeigt der Beitrag von Klaus Fischer zu Isaac Newton. Aufbauend auf der Wandlung des Newton-Bildes in der modernen Wissenschaftsgeschichte stellte er den Begründer der Klassischen Mechanik und Hauptvertreter der experimentellen Naturwissenschaft als einen Denker dar, der vor dem Hintergrund eines mystisch-philosophischen Ansatzes eben auch Naturphilosoph war. Newton befand sich nach seinem eigenen Verständnis auf der Suche nach dem verlorenen Wissen der Alten und nach den inneren Kräften der Natur. Er verstand das Universum als ein Kryptogramm Gottes, das es zu entschlüsseln galt, nachdem Gott ursprünglich nur wenigen Eingeweihten eine solche Erkenntnisgabe geschenkt hatte. Nach Fischer ging es Newton um die 'Wiederentdeckung des wahren Weltsystems'(S. 53), das vorhanden sein mußte und von den Menschen auch mit allen zur Verfügung stehenden erkenntnistheoretischen und praktischen Mitteln entschlüsselt werden konnte. Newtons Verständnis berücksichtigte daher auch die Tradition der 'natürlichen' Magie, jedoch mit dem Unterschied, daß er sie nicht mehr als konkrete Wirkungen produzierende Kunst, sondern als Wissenschaftsmittel zur Erklärung der Welt begriff.
Die Frage nach dem Stellenwert und die Wertschätzung der Alten beschäftigt auch John Toland, dessen zentrales Werk 'Christentum ohne Geheimnis' Sina Rauschenbach analysiert und kontextualisiert. Toland schrieb sein Werk vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um die Hierarchie zwischen Altem und Neuem, ein Konflikt, dem Newton gewissermaßen ausgewichen war, nicht zuletzt weil seine Auffassung von wissenschaftlichem Fortschritt die Kritik vorangegangener Theorien stillschweigend, aber selbstverständlich voraussetzte. John Toland plädierte für die Lösung von der Autoritätsgläubigkeit und für die Kritik der Alten und trat ' für die Zeitgenossen in radikaler Manier ' für die uneingeschränkte Anwendbarkeit der menschlichen Vernunft ein. Sein zentrales Problem, inwieweit die menschliche Vernunft Grenzen unterliege, die christliche Religion verstehen zu können, führte ihn zu der Auffassung, das Wort Gottes sei an und für sich völlig vernünftig und zu begreifen. Konsequent trat Toland für ein individualisiertes Christentum ein, das zugleich wissenschaftlich geprägt war, insofern der Glaube nun Wissen und umgekehrt darstellte und jeder Mensch Gottes Wort auf seine Weise zu begreifen imstande sein sollte.
In ganz anderer Weise waren Religion und wissenschaftlicher Ansatz bei dem Heidelberger Hebraiker Johann Andreas Eisenmenger miteinander verbunden, der von Friedrich Niewöhner vorgestellt wird. Eisenmenger, der in Amsterdam studiert hatte, schrieb sein in hoher Auflage erscheinendes Werk 'Entdecktes Judentum' als Verteidigungsschrift des Christentums vor dem ' seiner Meinung nach ' zersetzenden Einfluß der Juden. Von der Intention klar judenfeindlich ausgerichtet, stand es unter einem aufklärerischen Impetus, der eine historisch-theologische Darlegung und Interpretation der jüdischen Quellen verfolgte. Eisenmenger wollte keine Hetzschrift, sondern eine Handhabe für seine Mitchristen verfassen, damit sie sich aufgrund vernünftiger Kenntnisse gegen jüdische Angriffe besser wehren könnten.
Fern von wissenschaftstheoretischen Diskursen und offenkundig doch mit ihnen eng verknüpft, wird William Dampiers von Hans-Jürgen Lüsenbrink als ein aufgeklärter Seefahrer, Entdecker, Abenteurer und Zwangsseeräuber geschildert, dessen Reisebericht von den Zeitgenossen zwischen 1700 und 1740 sogar als Referenzwerk geschätzt und erst im 19. und 20. Jahrhundert der Marginalisierung anheim fiel. Lüsebrink zeigt den kritischen Ansatz in Dampiers Reisebericht auf, der nur selbst Erlebtes oder glaubwürdig Überliefertes gelten ließ, Spekulation und Gerüchte als Quellen ausschloß. In die gleiche (kritische) Richtung weist das Fehlen religiöser Bezugsmuster in seiner Darstellung oder die Sensibilität für kulturelle Unterschiede, ohne daß sein Bewußtsein für eine Hierarchie unter den Kulturen verloren gegangen wäre.
Marcel Niedens Beitrag zu August Hermann Francke zeigt auf, daß trotz klarer Machtgefälle zwischen Lehrer und Schüler die pastorale Pädagogik Franckes mit ihrem Ziel der Herausbildung einer 'inneren Stimme' die Ausbildung eines individuellen Analyse- und Kritikpotentials begünstigte und schließlich auch zu innersystemischen und eben auch innerfamiliären Spannungen führte.
Der Beitrag von Annette Monheim-Semrau beschäftigt sich mit dem italienischen Komponisten, Konzertmeister und Organisator Arcangelo Corelli. Anhand seiner posthum veröffentlichten Concerti Grossi wird Corellis Einfluß auf die Entstehung der Gattung Concerto Grosso als bewußte Kritik an musiktheoretischen Traditionen und dem damit verbundenen Wandel in der Musikgeschichte dargestellt.
Schließlich stellt Meinrad v. Engelberg die Abtei Melk als Modell des spätbarocken Klosterbaus vor, die unter ihrem Abt Berthold Dietmayr seit 1702 vollkommen umgestaltet wurde. Dabei wurde die ursprünglich unbarocke Klosteranlage im Gegensatz zu Versailles und anderen derartigen Bauten in die Topographie eingebettet, nicht diese an die Architektur angepaßt. Unter massiven Konflikten innerhalb des Konvents habe der Abt einen bewußten Bruch mit der Vergangenheit vorgenommen, um vor dem Hintergrund des politischen Wandels in Österreich eine Rangaufwertung der Abtei rechtfertigen bzw. untermauern zu können.
Die hier dargestellten Beiträge sind allesamt nicht nur instruktiv und informativ, sie sind anregend und spannend. Sie spannen ein intellektuell weiträumiges Panorama, nicht zuletzt weil die einzelnen Sujets stark variieren und die dargestellten Protagonisten nicht nur die erste Linie alteuropäischer Intellektualität repräsentieren. Das Anliegen der Herausgeber, einen neuen interdisziplinären Blick auf die Denkwelten einer Epoche zu geben, die bisher zu wenig berücksichtigt worden sein soll, und auf die Eingebundenheit von Ideen und Wissen in bestimmte historische Kontexte hinzuweisen, erfüllt sich insofern. Um so mehr enttäuscht das Nachwort der Herausgeber, das die Beiträge in ein Korsett zusammenzwingt, das vielleicht der Sichtweise der Herausgeber entspricht, nicht aber den Aussagen der Beiträge, und das mit höchst fragwürdigen Postulaten operiert. Die geographische Konzentration auf den englischen, französischen und deutschen Raum mit dem Bemühen um Wahrung von sozialer und kultureller Einheitlichkeit zu rechtfertigen (S. 209), leuchtet nicht ein, läßt sogar eher erstaunen, weil es sogar ein Verkennen eines wesentlichen Charakteristikums der Epoche und der dargestellten Repräsentanten offenbart: die Ähnlichkeit der Denkungsart bei gleichzeitiger Unähnlichkeit der Interessensgebiete und sozialen Aufenthaltsräume. Wer mit Recht auf den Übergangscharakter der Epoche hinweist, kann nicht in solcher Weise um Einheitlichkeit bemüht sein, zumal die Niederländer und Spanier zweifellos ebenfalls in diese Einheit gehören. Gleiches gilt für die angebliche intellektuelle Verbindung der Protagonisten untereinander. Sie wirkt gekünstelt. Selbstverständlich entstammen alle vorgestellten 'Denker' aus traditionsbestimmten Gesellschaften, ansonsten hätten sie sich nicht mit ihnen auseinandersetzen müssen. Andererseits aber ' und hier liegt doch ein weiterer spannender Aspekt dieser gelungenen Zusammenstellung ' waren ihre Lebens- und Denkwelten in geographischer, sozial-ständischer und politischer Hinsicht radikal verschieden. Es bleibt auch zu hinterfragen, ob sich alle dargestellten Protagonisten mit der Autorität alter Systeme und Werte prinzipiell auseinandersetzten oder dies nicht aus viel naheliegenderen, 'praktischen' Gründen taten: Für Abt Dietmayr von Melk war baulicher Wandel und der damit implizierte Paradigmenwechsel ein lediglich funktionales Instrument zur Begründung und Bewahrung politischen Einflusses, nicht etwa der Ansatzpunkt einer kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Pierre Bayles Wirkungsästhetik hatte sowohl die Vermittlung seiner Kritikmethode als auch die Absatzförderung seines Werkes zum Ziel. Die Verweigerung William Dampiers gegenüber Spekulation und sein Beharren auf authentischen Quellen ist sowohl Ausdruck für eine neu zu nennende 'Wissenskonfiguration'(S. 79) als auch für das Bewußtsein, dem 'kritischen' Leser Informationen als real vermitteln zu können. Daher ist der Hinweis (S. 212), den Protagonisten habe der gesellschaftliche Nutzen vor Augen gestanden, verfehlt. Solcher allgemeine Nutzen muß nicht zuletzt als argumentatives Instrument zur Durchsetzung individueller Vorstellungen und Auffassungen gelten. Deswegen ist der Rekurs auf den allgemeinen oder gesellschaftlichen Nutzen nicht unlauter gewesen, aber er wurde eben auch von den jeweiligen Gegner benutzt. Sind diese deshalb a priori als 'unaufgeklärt', unkritisch zu betrachten? In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß intellektuelle Provokation und Rechtfertigung eben auch eine gezielte 'Werbestrategie' war, wie die Beispiel Tolands und Bayles zeigen. Schließlich sind Ideen in sozioökonomische Kontexte eingebunden. Was demnach mit Recht für den protestantischen Philosophen Leibnitz angemerkt wird, kann für den katholischen Realpolitiker Abt Dietmayr nicht oder nur eingeschränkt gelten: Leibnitz propagiert die Orientierung der Wissenschaft am gesellschaftlichen Nutzen, Dietmayr orientiert die Umsetzung neuen Denkens am politischen Nutzen für sich und seinen Konvent. Zweifellos ist aber allen Protagonisten ein entsprechendes Selbstbewußtsein und Selbstbehauptungswille zu eigen. Sie sind insofern Protagonisten des Beginns einer 'Epoche nach dem Aufbruch und vor der Moderne'(S. 214). Sie sind aber ebenso gewiß weder Propheten oder gar Revolutionäre eines Neuanfangs.
Den Herausgebern ist zweifellos ein interessanter, anregender Sammelband gelungen. Neue Sichtweisen eröffnen sie dagegen nicht grundsätzlich, zumal der von Paul Hazard in seiner großartigen Darstellung jener Epoche verwendete Krisenbegriff der im Sammelband deutlich gewordenen Problematik entspricht und ausführlich dargelegt wird.