Reichspersonal
Funktionsträger für Kaiser und Reich

Seit Jahrzehnten beschäftigt die Frage nach der Staatsqualität des Alten Reiches die Forschungsdiskussion. Die neuere These Georg Schmidts, wonach das Alte Reich ' gemäß einem Quellenbegriff ' als Reichs-Staat zu verstehen sei, hat hierbei die Diskussion angeheizt. Bei aller Kontroversität gilt immerhin noch die Verdichtungsthese Peter Moraws als gemeinsame Konsensbasis. An sie knüpft auch der vorliegende Sammelband jüngerer Historiker an, die die Verdichtung des Reiches seit dem ausgehenden Spätmittelalter aus dem Blickwinkel des sogenannten Reichspersonals, d.h. der für Kaiser und Reich tätigen Funktionsträger konstatieren. Demnach setzte sich auch noch in der Frühen Neuzeit der Verdichtungsprozeß auf Reichsebene fort und vollzog sich nicht ausschließlich in den Territorien.
In 13 Beiträgen wird für verschiedene Personengruppen teilweise kontrovers der Frage nachgegangen, inwieweit sie Teil eines spezifischen Reichspersonals waren. So zeichnet Wolfgang Burgdorf die Stationen der reichsrechtlichen peregrinatio academica nach, die für die aufstrebenden Juristen des Reiches vom Wetzlarer Reichskammergericht (RKG) nach Regensburg auf den Immerwährenden Reichstag und schließlich nach Wien zum Reichshofrat oder anderen Institutionen führte. Sie stellte die praktische Ausbildung dieser Juristen sicher, vermittelte neben fachlichen Kenntnissen auch praktische Einblicke in verschiedene Territorialrechtssysteme und gab die Möglichkeit eigene Netzwerke aufzubauen bzw. sich in bestehenden zu etablieren. Gleichzeitig erkennt Burgdorf in dieser peregrinatio die Funktion der Identitätsbildung, die durch Ausbilung eines 'reichspersonalen' Habitus und Akkulturation an bestimmte Verhaltensformen auf der Ebene der Reichsinstitutionen eine juristische Elite für die Territorialstaaten formte, und ' wie hinzuzusetzen wäre ' auch für das Reich.
Hinsichtlich der kaiserlichen Kommissare des Reichshofrats und deren Subdelegierten kommt Eva Ortlieb zu dem Schluß, es handele sich nicht um 'Reichspersonal' im engeren Sinne, weil diese Funktionsträger nicht eng an das Reich gekoppelt waren, sondern selbständig handelten und von den jeweiligen streitenden Parteien angefordert wurden. Andererseits bemerkt Ortlieb ihre Bedeutung für die kaiserliche Reichspolitik und für das existente Bewußtsein eines Reichszusammenhangs.
Auf die bisher weitgehend unerforschte Geschichte des Reichshoffiskalats weist Gernot Peter Obersteiner hin. Weitgehend mit Lehensachen und damit verbundenen Angelegenheiten befaßt, war es 1596 aufgrund äußererer Einflüsse ' Stillstand in der Arbeit des RKG, der neuerliche Türkenkrieg und die damit verbundenen Geldnöte Kaiser Rudolfs II. ' gegründet worden.
Stefan Ehrenpreis sieht die Reichshofratsagenten als Mittler zwischen Kaiserhof und Territorien. Als freie Prozeßvertreter, die den 'Gesetzen des Marktes' unterlagen und nicht nur über juristische Kenntnisse, sondern insbesondere auch über informationelles Wissen verfügen mußten, nicht zuletzt weil der Prozeß vor dem Reichshofrat erhebliche Spielräume ließ, erscheinen sie nur bedingt als 'Reichspersonal'. Sie standen nicht in Diensten des Kaisers, sondern bestimmter Reichsstände.
Die eigentlichen Prozeßbeauftragten am RKG ' die Prokuratoren ' untersucht Anette Baumann. Das eigentlich als Karrieresprungbrett gedachte Amt eines Prokurators am RKG entwickelte sich immer stärker zum 'Abstellgeleis' bzw. zur Auffangstelle angesichts der steigenden Zahl von Juristen. Die Konkurrenz unter den Prokuratoren wurde durch die Selektionskriterien der Mandanten verschärft, die weniger auf die Tüchtigkeit der Prokuratoren als vielmehr auf deren Stand, Vermögen und Verbindungen achteten. Seit dem 18. Jahrhundert schotteten sich die Prokuratoren ihrerseits immer stärker von den Assessoren ab, die ständisch höher angesiedelt waren. Als Desiderate der Forschung benennt Baumann die Mechanismen zwischen den Parteien und das Selbstverständnis der Prokuratoren. Baumann geht davon aus, daß wenigstens die wohlhabenderen unter ihnen im 18. Jahrhundert eine enge Verbundenheit mit dem RKG zeigten. Es erscheint allerdings nicht einleuchtend, ob die Verbundenheit mit dem Gericht einer Verbundenheit mit dieser Institution als Reichsorgan gleichkam.
Karl H. Welker skizziert anhand des RKG-Assessors Johann Wilhelm Riedesel zu Eisenbach das Selbstverständnis dieser richterlichen Funktionsgruppe, das in diesem Fall von Individualität, Pflichtgefühl, Verantwortung und Autonomiestreben geprägt war.
Nils Jörn analysiert die Richter-Präsentationen Schwedens als Reichsstand am RKG. Sie blieben trotz des Großmachtstatus‘ Schwedens bis in 18. Jahrhundert unwirksam wegen der Inkompetenz der schwedischen Vertreter im Reich, der Besetzungsmechanismen am RKG, den Unzulänglichkeiten der Kandidaten und der fiskalischen Überforderung der schwedischen Krone. So konnte erst im fünften Anlauf 1743 der schwedische Einfluß realisiert werden, als mit Christian Nettelbladt ein ohnehin an der Universität Greifswald unliebsamer Jurist 'entsorgt' werden mußte.
Als Symbole der Autorität des RKG und der Einheit des Reiches interpretiert Ralf-Peter Fuchs die Boten des Gerichts, die gleichsam das Reich im Land verkörperten.
Diese Botengruppe wird von Eric-Oliver Mader sozial näher analysiert. Als 'Soldateske' des RKG begriffen bzw. sich selbst begreifend, gerieten sie nicht selten in innere Auseinandersetzungen des RKG und lebten in unsicherer, dabei jedoch benötigter Stellung.
Einen herausragenden Beitrag, dessen Bezug zur übergreifenden Thematik des Sammelbandes allerdings nicht recht einleuchten will, liefert Christine Pflüger zu den königlichen Kommissaren König Ferdinands I. Sie zählten zweifellos zur Elite des Reiches, besaßen offenkundig eine eigene Autorität, weitgehende Handlungsvollmachten, entsprechendes Selbstbewußtsein und eigene Kommunikationsnetze. Pflügers Beitrag gibt neue wertvolle Hinweise zur politischen Kultur und Kommunikation gerade für einen Zeitraum, in dem das Reich einen weiteren Verdichtungsschub erhielt. An ihre Überlegungen und Ergebnisse ist in der weiteren Forschung eng anzuschließen.
Armin Kohnle stellt sein Projekt einer Prosopographie der fürstlichen Reichstagsgesandten im Reformationszeitalter vor, wobei der Zusammenhang mit dem Reichspersonalsbegriff nicht klar wird, sofern man nicht doch unter ‚Reichspersonal‘ eine ' wie auch immer beschaffene ' Reichselite erkennen will.
Stephan Wendehorst stellt in seinem knappen Beitrag Vorüberlegungen zum öffentlichen Notariat an, das er zwischen Kaiser und Reichsständen angesiedelt sieht.
Schließlich gibt John L. Flood einen Abriß über die kaiserlichen Dichterkrönungen. Die so geehrten Dichter zählt er allerdings nicht zum Reichspersonal.
Die hier nur knapp skizzierten Beiträge sehr unterschiedlicher (nicht immer ganz nachvollziehbarer) Länge stellen nicht selten erste tastende Versuche der Erforschung des Reichspersonals dar. Auffällig ist dabei, daß das Personal im Umfeld des Reichskammergerichts eine zentrale Rolle einnimmt. Dagegen bleiben andere Institutionen ' wie das Reichsvizekanzleramt oder der Reichspfennigmeister ' unterbelichtet, deren Bedeutung auf der informellen Ebene noch nicht ausgelotet ist und vielleicht sogar unterschätzt wird. Angenehm ist, daß die Autoren für die jeweils untersuchte Gruppe die Problematik des Oberbegriffs kontrovers untersuchen. Dies gilt insbesondere für den einleitenden Beitrag von Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal. Auf ihren Aufriß einer Forschungsagenda soll wegen seiner Klammerfunktion für den Sammelband näher eingegangen werden:
Wendehorst und Westphal sehen das Reichspersonal durch seine Zugehörigkeit zu Reichsinstitutionen bestimmt, die ihrerseits die Frage aufwerfen, inwiefern sie als solche überhaupt gewertet werden können. Wichtig erscheint den Autoren, umfangreiche, charakteristische Karrierepfade zu erstellen, um das Verhältnis zur Reichs- bzw. zur Territorialebene gewichten zu können. In Erweiterung dieser Frage weisen sie auf die Rolle der Klientelverbände und Netzwerke hin, in die solche Funktionsträger eingebunden waren, und stellen zur Diskussion, ob für diese Gruppe ebenfalls ein Verbürgerlichungsprozeß attestiert werden kann oder ob er überhaupt relevant war. Vielversprechend erscheinen den Autoren auch funktionale Zuordnungskriterien, d.h. die Erfassung sowohl der direkt für Kaiser und Reich agierenden Personen als auch der für die Territorialherren in den Reichsinstitutionen tätigen Agenten. Den Autoren ist weniger an einer prosopographischen Rekonstruktion als an der Klärung der Frage nach der gruppenspezifischen Bedeutung des Reichspersonals gelegen. Daher distanzieren sie sich auch in systematisch-analytischer Absicht von dem immer wieder gerne verwendeten Eliten-Begriff und explizit von dem Reichseliten-Begriff Karl Härters, weil das Reichspersonal spezifisch überständische Charakteristika aufweist. Die damit ' wie in allen Beiträgen des Bandes ' aufgeworfenen Aspekte verdienen höchste Beachtung. Die folgenden Anmerkungen sind deshalb einer durch den Sammelband angeregten, weiterführenden Diskussion geschuldet.
Die von Wendehorst und Westphal aufgeworfene Frage, welche Institutionen überhaupt als Reichsinstitutionen gelten dürfen, erscheint ' wiewohl in differenzierender Absicht gestellt '  symptomatisch für die umständliche Verständnisstruktur der Diskussion über das Reich. Wenn man das Reich als komplexes Ganzes aus Kaiser und Reichsständen versteht, muß man konsequent auch akzeptieren, daß kaiserliche, reichsständische und kaiserlich-reichsständische Institutionen vorzufinden sind, die in summa das institutionelle Ganze darstellten. Die Reichsinstitutionen besaßen demnach gemäß ihrer Entstehungs- und Effektintention spezifische Eigenschaften. Die dort tätigen Funktionsträger agierten selbst dann für das Reich bzw. als 'Reichspersonal', wenn sie ausschließlich im Auftrag des Kaisers oder als Vertreter von Reichsständen in einer Reichsinstitution handelten. Angesichts der komplexen Struktur des Reiches erscheint es so gesehen sinnvoll, diese Komplexität in die Analyse einzubeziehen und durchaus auch als normal für alteuropäische Herrschaftsstrukturen ' wenigstens aber für die Strukturen des Reiches in all seinen Ebenen ' zu begreifen. Denn eine solche fehlende oder mangelhafte Eindeutigkeit war nicht nur für das Reich bzw. die Reichsebene charakteristisch. Auch in den Territorien des Reiches ' so etwa in den geistlichen Staaten ' lassen sich ähnliche Phänomene finden, bei denen Herrschaftsinstitutionen nicht eindeutig der Sphäre eines Herrschaftspols ' Fürst oder Stände ' zuordnen lassen. Dagegen erscheint es sinnvoll zwischen Funktionsträgern für das Reich ' wie bspw. die Richter und Assessoren am Reichskammergericht, aber auch der Reichshofrat ' und Funktionsträgern im Reich bzw. an seinen Institutionen zu unterscheiden. Hierfür wären die Reichstagsgesandten typische Repräsentanten oder die Agenten am Reichshofrat. Mögen sie auch bestimmte institutionelle Bindungen besessen haben oder ihre Funktion durch Ordnungen reguliert worden sein, so agierten sie dennoch nicht im Auftrag ‚des Reiches‘, wohl aber im Reich bzw. an seinen Institutionen. Analog würde man wohl kaum Prozeßvertreter am Bundesverfassungsgericht als Teil dieses Organs der Bundesrepublik verstehen. Die Komplexität des Reiches erzwingt demnach eine Differenzierungsnotwendigkeit sowohl hinsichtlich der Begriffe als auch der Institutionen, die in letzter Konsequenz den Schmidtschen Reichs-Staats-Begriff in seiner ursprünglichen Formulierung zurecht ad absurdum führt. Insofern ist den diesbezüglichen Bemerkungen von Mader (S. 268f.) nur zuzustimmen.
Der Begriff 'Reichspersonal' mag auf den ersten Blick problematisch erscheinen. Ihn einfach durch den vermeintlich neutralen soziologischen Begriff der Funktionsträgerschaft zu ersetzen, wäre jedoch mindestens ebenso problematisch. Denn dann müßte bedacht werden, daß genaugenommen die Reichsstände ebenfalls Funktionsträger des Reiches waren, so etwa bei der Umsetzung von Reichstagsbeschlüssen. Gleichermaßen leuchtet die Ablehnung des Begriffs der Reichselite vollkommen ein, zumal der Elitenbegriff ohnehin inflationär verwendet wird, lediglich um die Besonderheit einer Personengruppe zu markieren. Dabei ist zu beachten, daß selbst in den Territorien solche Eliten letzthin äußerst beschränkte Phänomene waren.
So steht am Schluß ein überwiegend sehr positives Fazit des Diskussionswertes dieses Bandes, wobei zu hoffen bleibt, daß die weiteren Forschungen in diesem Bereich noch systematischer werden, dabei jedoch nicht den Fehler begehen sich wegen bestimmter analytischer Begriffe in die Falle der Denkschablonen zu begeben. Denn das Reich war und blieb trotz aller ' gewollter und ungewollter ' Verdichtungsmomente eine offenes Konstrukt, dessen Stärke und Schwäche gleichermaßen seine Unbestimmtheit ' positiv ausgedrückt: seine politisch-verfassungs-rechtliche Flexibilität ' war. Dem sollte Rechnung bei der historiographischen Analyse getragen werden.