Die 60er Jahre
Deutschland zwischen 1960 und 1970

Einer der großen deutschen Intellektuellen ist in diesem August 80 Jahre alt geworden. Zwei seiner Bücher sind hier anzuzeigen. Mit Hermann Glaser legt einer der besten Kenner der deutschen Geschichte, zumal der Kulturgeschichte, einen Band über Deutschland in den sechziger Jahren vor. Sein in der gleichen Ausstattung erschienener Band über die vorausgegangene Dekade wird zugleich in zweiter Auflage neu zugänglich gemacht.
Etwas sehr Unwissenschaftliches sei vorangestellt: Die im Hamburger Ellert & Richter Verlag erschienenen Bände sind schön, es macht Spaß, in ihnen herumzublättern und die zahlreichen Fotos in dem Band anzuschauen. Er ist reich bebildert, ganzseitige Fotografien geben ein Gefühl für die Zeit, die lebhaft und fundiert zugleich beschrieben ist.
Der Leser erfährt die wichtigsten politischen Entwicklungen, so beginnt der Band über die fünziger Jahre mit einem langen Kapitel über Konrad Adenauer, wenig später wird der Weg der SPD nach Godesberg beschrieben. Doch auch über zahlreiche andere Details, die die Zeit prägten, schreibt Glaser. So erzählt er die Geschichte von Hans Thierfelder, der 1946 mit einem Koffer aus der DDR geflohen war und in der BRD zum Strumpf-Produzenten aufstieg. 'Anfang der fünziger Jahre kosteten Perlonstrümpfe noch knapp 20 Mark, während fast die Hälfte aller Lohn- und Gehaltsempfänger nur tewa 250 DM netto nach Hause brachte. Laufmaschen waren daher genauso gefürchtet wie Verfärbungen oder Elastizitätsverlust (ab 1955 gab es Perlon-Stretch-Strümpfe). Dass man kein Strumpfband beziehungsweise keinen Straps mehr tragen musste, machte den 'Strumpfhosenmythos' aus.' (S. 28)
Glaser schreibt über die soziale Not vieler Bundesbürger in den ersten Jahren des jungen Staates und die Versuche ihrer Überwindun, über 'Konsumdemokratie' (S. 44), die Anfänge der sexuellen Revolution, Intellektuelle, Künstler und ihr Schaffen. Breiten Raum nimmt die Kultur ein und auch hier besticht die Darstellung durch ihren Reichtum an Facetten. Bei vielen der abgebildeten Theater- oder Filmszenen etwa wird so mancher Leser Momente des Erkennens und der Erinnerung haben. Ein großes Kapitel ist der von Alexander und Margarete Mitscherlich 1967 untersuchten 'Unfähigkeit zu trauern' und den großen personellen Kontinuitäten aus der Nazi-Zeit gewidmet.
Den ersten Band schließt ein Kapitel über die fünziger Jahre in der DDR ab, der überschrieben ist: 'Die Fuffziger finden nicht statt', da hier, wie Glaser beschreibt, eben kein vielseitiger Umbruch stattfand. Neben einer Schilderung der politischen Situation ist auch hier wieder ein deutlicher Schwerpunkt auf kulturelle Themen gelegt, werden wichtige Schriftsteller mit ihren Biographien in der DDR oder zwischen Ost und West vorgestellt und die Kulturpolitik des SED-Regimes skizziert.
Dem Band über die 60er Jahre vorangestellt ist '... the times they are a-changin´' von Bob Dylan (1963) ' und so geht es auch in diesem Band um Entwicklungen und Umbrüche vor allem gesellschaftlicher und kultureller Natur, eingebettet in die Darstellung der politischen Zeitläufte. Die 60er Jahre: John F. Kennedy, Th Beatles, Woodstock, Martin Luther King, Andy Warhol, Eichmann- und Auschwitz-Prozesse, Hochuths 'Der Stellvertreter', Joseph Beuys, Kuba-Krise, Vietnam, Mao Tse-tung, Sechs-Tage-Krieg, 'Prager Frühling' ' nur einige von Glaser genannten 'Stichworte zur Zeit' machen deutlich, wie gut das Dylan-Zitat gewählt ist für einen Band über diese Dekade und in welch bewegtem Rahmen sich die deutsche Geschichte der sechziger Jahre abspielte. Auch in diesem Band schreibt Glaser eine kurze politische, dann aber vor allem eine Geschichte über gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen und lässt kaum einen Bereich aus. Der Leser erfährt Details über Literatur und Filme, über Theater und Kunst, über die Presselandschaft und ' natürlich, in einem Band über die sechziger Jahre - gesellschaftlichen Protest, um nur einige Beispiele zu nennen; die jeweiligen Kapitel enden mit einer Darstellung der Situation und der Entwicklungen in der DDR.
Der Ausblick am Ende des zweiten Bandes schließt wie folgt: 'Es begannen die siebziger Jahre als ein ambivalentes, durch viel Erfahrungshunger, Patchwork-Mentalität und neue Unübersichtlichkeit geprägtes Jahrzehnt. Das ist allerdings nicht mehr eine 'linke', sondern eine andere Geschichte' (S. 170). Man darf hoffen, dass Hermann Glaser gerade dabei ist, diese Geschichte zu schreiben.