Efraim Barasz, der stellvertretende Vorsitzende des Judenrats im Ghetto Białystok, de facto jedoch der Leiter des Rats, sagte am 2. November 1942 auf einer Versammlung: 'Der Judenrat dient als Barriere und bewahrt das Ghetto vor all dem Bösen. Aber die Beziehung des Ghettos zum Judenrat ist nicht, wie es sich gehört. Es geht nicht um Dankbarkeit, wir tun alles aus dem Antrieb unseres Gewissens heraus. Aber Verfluchungen und Beschimpfungen haben wir doch nach allgemeiner Ansicht nicht verdient. Die Fehler, die vorkommen, bemühen wir uns zu korrigieren.' (S. 71)
Die Protokolle und Meldungen des Białystoker Judenrats, die nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegen, zeigen die Problematik der Judenräte unter deutscher Besatzung aus der Innensicht, sie verdeutlichen die verzweifelte Situation des Rates, seine Bemühungen, trotz völliger Abhängigkeit von den deutschen Behörden ('Wir sind ohnmächtig gegenüber der Behörde.', S. 61) ein Leben zu organisieren. Hier diskutieren die oftmals gescholtenen und kritisierten Vertreter eines jüdischen Selbstverwaltungsorgans über notwendige Maßnahmen, über Handlungsstrategien und die Frage, ob es einen Weg der Rettung gibt. Es geht um die in einer Versammlung am 5. April 1942 gestellte Frage: 'Wie soll man an den Rand des Abgrunds gehen und nicht in den Abgrund hineinfallen?!' (S. 105). Die Antwort, die auf derselben Versammlung gegeben wurde, ist die gleiche, wie sie etwa im Ghetto Litzmannstadt der umstrittene Judenälteste Mordechai Chaim Rumkowski propagierte: 'Alle, die in der Industrie arbeiten, retten sich selbst und auch das ganze Ghetto.' (S. 105). Die Protokolle und Meldungen geben detaillierte Einblicke in die Geschichte des Ghettos Białystok. Sie sind überliefert dank des von Mordechai Tenenbaum-Tamaroff ins Leben gerufenen Geheimarchivs ' eine faszinierende Geschichte für sich, die an dieser Stelle nicht erzählt werden kann.
Hans-Peter Stähli, der Teile dieser Dokumente bereits als Beweismittel in der Strafsache gegen den Leiter der Dienststelle 'Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD für den Bezirk Bialystok', Dr. Wilhelm Altenloh, und weitere Angehörige der Sipo am Landgericht Bielefeld 1966/67 übersetzt hatte, zeichnet für die Übersetzungen der Protokolle und Meldungen verantwortlich. Zugrunde liegt die hebräische Ausgabe der Dokumente von Nachman Blumenthal aus dem Jahr 1962, in der die jiddischen Originale als Faksimile gedruckt waren.
Damit ist der beeindruckende und wichtige Teil des vorliegenden Buches beschrieben, den der Titel auch erwarten lässt. Etwas irritierend wirkt aber, dass das Buch aus zwei Teilen mit jeweils eigenen Einleitungen besteht. Der zweite, wiederum mehrfach untergliederte Abschnitt präsentiert die Ergebnisse eines Workshops, der im Juni 2007 in Bielefeld zum Thema 'Quellen der Judenräte im besetzten Polen' stattfand. Hier sind durchaus informative Beiträge, etwa über andere Judenräte im Urteil der Zeitgenossen und Nachgeborenen, zu finden, und trotzdem: Es wäre sinnvoller gewesen, diese wichtigen Dokumente in einer eigenen, dann eben kleineren, Publikation zu veröffentlichen. Sie hätten durch einige wenige der vorliegenden Aufsätze ergänzt werden können, die direkt die Geschichte der Juden in Białystok und deren Quellen verhandeln. Die Ergebnisse des genannten Workshops hätten dann ebenfalls in einer eigenen Publikation veröffentlicht werden können. Zwar sollen die Beiträge des zweiten Teils, wie die Herausgeber betonen, den Rezeptionskontext der Protokolle und Meldungen verdeutlichen, doch wäre hier weniger vielleicht mehr gewesen.