Bereits im ersten Absatz des Vorworts stellt sich die 'Enzyklopädie der Neuzeit' in die Tradition der berühmten Aufklärungs-'Encyclopédie' Diderots und d'Alemberts. Sie erhebt damit einen nicht gerade bescheidenen Anspruch. Doch erst nach Abschluß des gesamten Werks und nach einigen Jahrzehnten der Rezeption wird ein gerechter Vergleich möglich sein. Da das Werk erst im November 2012 abgeschlossen vorliegen soll, können in einer Rezension vorerst also lediglich die konzeptionellen Überlegungen vorgestellt und die beiden ersten, im Jahr 2005 erschienenen Bände gemustert werden. In jedem Fall stellt ein solches Unternehmen eine mutige Tat und eine bemerkenswerte organisatorische Leistung dar. Über 80 namhafte Teilherausgeberinnen und -herausgeber für bestimmte Themenfelder wurden einbezogen, zahllose Autorinnen und Autoren, soweit zu sehen zumeist ausgewiesene Fachleute, waren zu koordinieren. Das ist in beeindruckender Weise gelungen.
Im ausführlichen Vorwort (S. VII-XXIV) bezieht sich der Herausgeber nicht nur auf die 'Encyclopédie', sondern sieht sein Werk als Fortsetzung des 'Neuen Pauly' und des 'Lexikon des Mittelalters'. Daran anknüpfend soll die 'Enzyklopädie der Neuzeit' die europäische Geschichte von 1450 bis 1850 umfassen, eine gesonderte enzyklopädische Darstellung der 'Moderne' seit 1850 wird angekündigt. Das Werk ist auf rund 4.000 Artikel in 15 Bänden angelegt, als Band 16 ist ein Gesamtregister vorgesehen; Zwischenregister sind im Internet zugänglich. Rund 100 'Schlüsselartikel' von etwa zehn Seiten sollen die 'Grundphänomene der neuzeitlichen Geschichte länder- und epochenübergreifend' behandeln, weitere 900 'Dachartikel' von drei bis sechs Seiten 'zentrale Aspekte der Schlüsselartikel' vertiefen und weitere ca. 3.000 'Einzelartikel' der 'noch konkreteren Information dienen'. Diese Ankündigung (über deren Hausbau-Metaphorik ' erst die Schlüssel, dann das Dach? 100 Schlüssel, 900 Dächer? ' hier hinweggesehen sei) wird in Hinsicht auf die 'Schlüsselartikel' konkretisiert: Sie werden zehn Themenschwerpunkten zugeordnet, die von Staat und Politik über Gesellschaft, Kultur und Umwelt bis zu Wissenschaft und Kunst reichen. Im übrigen betont das Vorwort, daß die Enzyklopädie Fakten, Zusammenhänge und Forschung präsentieren und in Beziehung setzen will, insofern real-, begriffs- und forschungsgeschichtlich vorgeht, daß sie 'Detailwissen' ebenso wie 'Überblickswissen' vermitteln will, die 'Kontextualisierung des historischen Wissens' anstrebt, die allgemeine Bedeutung spezieller Phänomene und die individuelle Lebenspraxis ebenso wie gesamtgesellschaftliche Konsequenzen berücksichtigen will, daß sie daher einen disziplinenübergreifenden Ansatz wählt und die Politik-, Rechts-, Sozial-, Wirtschafts-, Technik-, Umwelt-, Medien-, Geschlechter-, Kultur-, Religions-, Kunstgeschichte etc. 'gleichermaßen' einbezieht. All das ist plausibel und wird in vielen Artikeln auch außerordentlich eindrucksvoll umgesetzt.
Zu diskutieren ist freilich einerseits die Epocheneinteilung, andererseits die räumliche Eingrenzung auf Europa. Die Zäsur Mitte des 15. Jahrhunderts erscheint insgesamt nachvollziehbar, auch wenn das Vorwort dafür unter anderem die Protoindustrialisierung anführt. Weniger einleuchtend ist jedoch die Zäsur um 1850, die als Übergang zur Moderne charakterisiert wird. Der Herausgeber weist selbst auf Diskussionen über diese Entscheidung hin. Tatsächlich ist der Begriff der 'Moderne' nicht ganz unproblematisch und erfordert im übrigen eine weitere Enzyklopädie zur Post-, Nach- oder Zweiten Moderne. Außerdem weicht die Enzyklopädie damit begrifflich nicht nur national vom Gebräuchlichen ab (manche Artikel arbeiten aber noch ganz selbstverständlich mit dem Begriff der 'Frühen Neuzeit'), sondern könnte auch international Verwirrung stiften ('early modern history', 'histoire moderne', 'histoire contemporaine'). Auch sind die Kriterien, die für die Zäsur angegeben werden, zum Teil fragwürdig, jedenfalls kaum präzise auf das Jahr 1850 zu beziehen, selbst wenn man dies als sehr weiche Grenze ansehen will. Hingewiesen sei nur auf vom Herausgeber genannte Aspekte wie der 'Aufstieg politischer Massenparteien', 'Entstehung des europäischen Sozialstaats' (doch wohl eher: Entstehung des Sozialstaats in Europa), 'Intensivierung und allgemeine Verbreitung von Marktbeziehungen', Urbanisierung, Verwissenschaftlichung, Massenkultur, 'Verschärfung von Nationalitätenkonflikten' als Folge von Nationsbildung und im Übergang zum Hochimperialismus, schließlich 'Entstehung und Verselbständigung der Frauenbewegung als politischer Kraft mit eigenem programmatischem Profil': All das sind Prozeße, die entweder erst sehr viel später, um 1880, zum Durchbruch kamen oder das gesamte 19. Jahrhundert prägten, insofern eben doch wohl eher von der Epochenschwelle 'um 1800' oder vom 18. Jahrhundert ausgingen. Die Ungleichzeitigkeiten, die schon für 1450 nur angedeutet sind, werden dabei vernachlässigt, dies in territorialer ebenso wie in sachlicher Hinsicht. Nicht wenige Artikel führen ihre Darstellung denn auch, je nach sachlicher Gebotenheit, bis ins frühe oder späte 19. Jahrhundert.
Die Begründung der räumlichen Beschränkung wird etwas modisch plakativ unter der Überschrift 'Europäische Perspektiven in einer globalisierten Welt' angekündigt. Inhaltlich ist sehr positiv zu vermerken, daß eine globale Erweiterung der europäischen Geschichte angestrebt ist und die Interaktionen mit der außereuropäischen Welt einbezogen werden sollen, zumal, wie der Herausgeber unterstreicht, die Geschichte der Niederlande, Großbritanniens, Portugals etc. nicht ohne deren Kolonialgeschichte verstanden werden kann. Einleuchtend ist auch, daß man eine nationale Orientierung vermeidet, und wichtig ist, daß man den Europaweg weder additiv noch normativ (als durchschnittlichen bzw. Normalfall samt abweichenden Sonderwegen) darstellen, sondern einzelne Phänomene je nach ihrer Bedeutung mit regionalem oder nationalem Schwerpunkt vertieft behandeln will und daß man nicht von einer Homogenität Europas ausgeht, sondern gerade auch Vielfalt, Unterschiede und Konflikte berücksichtigt ' wobei übrigens noch offen bleibt und nach den ersten beiden Bänden auch nicht zu erkennen ist, in welcher Weise unternationale Territorialidentitäten Berücksichtigung finden.
Etwas unscharf ist aber nicht nur, was eigentlich Europa ist (oder gar ausmacht), sondern auch, wie die überseeische Welt einbezogen werden kann. Das zeigt das Beispiel Afrika: Ein eigener Artikel fehlt, beim Stichwort sind nur einige Querverweise aufgeführt. Statt dessen findet sich allein ein Artikel über 'Afrikanische Religion'. Da aber nur das behandelt werden soll, was auf Europa Auswirkungen hatte, kommt der Artikel in gewisse Schwierigkeiten, denn die afrikanische Religion, ganz abgesehen von der Frage, ob dieser Begriff (im Singular!) sinnvoll ist, hatte nun einmal kaum Einfluß auf das Europa der Frühen Neuzeit. So weicht der Artikel auf transkontinentale Aspekte (Sklavenhandel) oder das 20. Jahrhundert (Unabhängige Kirchen) aus, behandelt das Phänomen der Religion in Afrika aber in sehr eingeengter Sichtweise unter Bezug auf Instrumentelles: 'Afrikanische Religion als Strategie der Alltagsbewältigung' bzw. 'als Strategie der Herrschaftssicherung' lauten Unterpunkte. Das ist tatsächlich eine sehr europäische Deutung, die freilich auch für die Geschichte von Religion in Europa nicht sehr sinnvoll ist. Das einzelne Beispiel soll hier nicht denunziert werden, das Problem liegt im Konzept. 'Afrikabilder' wären zum Beispiel ein wichtiges, geradezu zwingendes Stichwort gewesen, vielleicht auch 'Afrikaner im frühneuzeitlichen Europa', 'Europäer in Afrika', aber das findet man nicht.
Ein Stichwort 'Asien' fehlt gleichermaßen, man wird wiederum auf 'Kolonialismus', 'Kulturkontakt' etc. verwiesen, außerdem gibt es noch das Stichwort 'Asienhandel', das aber erneut nur Querverweise bietet auf 'Chinahandel', 'Indienhandel', 'Japanhandel'. Religion in Afrika, Handel in Asien ' das scheint auf den ersten Blick auf verbleibende Klischees hinzudeuten. Immerhin findet sich ein Artikel 'Buddhismus' und zudem ein Stichwort 'Chinesische Welt', auf beide wird bei 'Asien' aber nicht verwiesen. Das Stichwort 'Amerika' verweist ebenfalls lediglich auf diverse Artikel zum transatlantischen Austausch, zwei weitere Amerika-bezogene Stichwörter, nämlich 'Amerikanische Religionen' (Plural!) und 'Amerikanische Revolutionen', bieten gleichermaßen nur Querverweise. Kurz:. Auch die transfergeschichtliche Öffnung kaschiert nicht, daß hinter der Konzentration auf Europa eine klassisch-abendländische Perspektive steht. Eine universalgeschichtliche wäre vielleicht doch konsequenter gewesen, gerade weil auch Themenfelder wie Musik, Naturwissenschaften etc. einbezogen werden und dieser dankenswert breite interdisziplinäre (manchmal fast schon transdisziplinäre) Ansatz durch eine globale Perspektive noch besser hätte genutzt werden können. Nur fiele mit der Infragestellung des Europa-Schwerpunktes auch die Periodisierung in sich zusammen.
Diese Generalkritik ist etwas ungerecht, vor allem gegenüber den Teilherausgebern und Autoren. Das Werk enthält neben den erwartbaren Basisbegriffen ('Absolutismus', 'Bauern', 'Bevölkerung', 'Bürgerliche Gesellschaft' etc.), die nicht nur der Fülle an schon vorliegenden lexikalischen Begriffserläuterungen eine weitere hinzufügen, sondern in der Regel höchst sachkundige, auf dem jüngsten Forschungsstand basierende Einführungen geben, sowie hilfreichen Sachartikeln ('Bergbautechnik', 'Code Civil/Pénal' etc.) auch eine Reihe von Stichwörtern, die man nicht unbedingt erwartet hätte ('Botenwesen', 'Brunnen', 'Bühne' etc.) und die neue und originelle Perspektiven eröffnen. Freilich betrifft dies manchmal Themen, die man nicht unbedingt dort sucht, wo man sie in der Enzyklopädie findet. Insofern ist die Enzyklopädie eigentlich kein bloßes Nachschlagewerk (jedenfalls wenn man sie ohne Register benutzt), sondern ein Lesebuch. Sie weckt Neugier, verführt zu 'zweckfreier' Lektüre und eröffnet vielfältige Einblicke (ganz konkret auch dank einer zurückhaltenden, aber gezielt und sinnvoll eingesetzten Illustrierung). Ob die Balance zwischen regionaler, nationaler und europäischer Perspektive, zwischen Kontinental-, Transfer- und Universalgeschichte gelingen kann, wird sich letztlich wohl erst mit dem Blick auf die weiteren Bände zeigen.