Vier weitere Bände der Enzyklopädie der Neuzeit, die seit 2005 erscheint und 2012 abgeschlossen sein soll, sind anzuzeigen. Auf viele Qualitäten und manche Grundprobleme wurde schon in den vergangenen beiden Rezensionen der Bände 1-6 hingewiesen. Zu den Problemen gehören die zugrunde gelegten Zeitgrenzen 1450 und 1850 (bei durchaus irreführendem Titel: die Neuzeit endet eben nicht 1850) und vor allem die Konzentration auf Europa, die dann aber doch nicht konsequent durchgehalten wird bzw. durchgehalten werden kann ' wobei die Kriterien der Ausweitung nicht ganz klar sind, jedenfalls von Artikel zu Artikel zu variieren scheinen. Die nun vorliegenden weiteren Bände bestätigen das Bild. Immer mehr zeigt sich, dass die Enzyklopädie ein tatsächlich außerordentlich beeindruckendes umfassendes Nachschlagewerk ist, das kaum einen Gegenstand übersieht und zum Vertiefen ebenso wie zum Stöbern einlädt. Immer mehr aber zeigt sich auch zweierlei: Die europäische Ausrichtung führt trotz aller transkontinentalen und transkulturellen Klauseln zu manchmal verständlichen, manchmal fragwürdigen Einengungen und zu manchen Auslassungen. Und: Gerade Artikel von grundsätzlicher Bedeutung sind sehr stark von den Autoren geprägt, die sie verfasst haben. Diese Aspekte können an zwei Beispielen gezeigt werden: dem Beitrag über 'Reisen' und dem über den 'Menschen' .
Der Artikel über 'Reisen' ist von mehreren Autoren verfasst. So einleuchtend das bei manchen Themen sein mag, hier kommt dabei eine Addition regionaler Perspektiven heraus. Dafür wird manchmal neben dem Reisen von Europäern auch die Gegenbewegung ' etwa Reisende aus Asien in Europa ' mit einbezogen. Aber ein zusammenhängendes Bild entsteht nicht. Manches fehlt ganz. Reisen in Afrika ' bis auf Nordafrika ' scheint es nach Ansicht der Autoren oder Herausgeber im Betrachtungszeitraum nicht gegeben zu haben. Die für die jüngere Forschung zentrale Frage nach der Situation des Reisens, der Begegnungen und 'Kontaktzonen' wird nur punktuell angesprochen. Ergänzende Artikel im Umfeld der Reise sind nur begrenzt hilfreich: Beim Stichwort 'Reiseführer' muss der Artikel dort abbrechen, wo es, nämlich Mitte des 19. Jahrhunderts, interessant wird. Und der Artikel über 'Reiseliteratur' behandelt historische Reiseberichte und fiktionale Texte gleichermaßen, konzentriert sich dabei besonders auf literarische Phänomene. Dabei ist es bedauerlich, dass die an der Reiseliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts gewonnenen Befunde nicht für die Frühneuzeit fruchtbar gemacht worden sind. Wer darüber mehr erfahren will, muss die Artikel 'Kulturkontakt, globaler' und 'Globale Interaktion' (die alphabetische Zuordnung ist manchmal irritierend) suchen. Hier sind dann eindrucksvolle Fallstudien auf engstem Raum komprimiert, jeweils allerdings wieder von verschiedenen Autoren geschrieben. Wie das 'Eigene' über das 'Andere' immer neu definiert wurde und sich dann doch wieder wandeln musste, wird in vielen Varianten anschaulich gemacht ' sogar unter Einbeziehung des ansonsten im Gesamtwerk oft übersehenen Afrika. Und vorangestellt sind einige grundlegende Einsichten in die kulturelle Bedingtheit von Zeitgrenzen und Epochenbegriffen. 'Neuzeit' ist eben auch ein okzidentales Phänomen. Auch im Beitrag über 'Neuzeit' wird die Fluidität und Vieldeutigkeit des Begriffs deutlich, und vor allem wird klar, dass Ansätze der Global- und Transfergeschichte eben auf die Vielfalt, Gleich- und Ungleichzeitigkeit kultureller Muster und Deutungsmuster hinweisen.
Dahinter fällt der vom Thema her zentrale Artikel 'Mensch, Menschheit' deutlich zurück. Höchst anerkennenswert ist, dass es überhaupt einen solchen Artikel gibt. Viele historische Lexika verzichten ganz darauf, den Begriff 'Mensch' aufzunehmen ' obwohl Geschichte doch gemeinhin als Handeln und Leiden von Menschen in der Vergangenheit definiert wird, man also doch wissen sollte, womit man sich eigentlich beschäftigt. Der Artikel behandelt allerdings streng genommen gar nicht den Menschen, sondern das Menschenbild, ohne dass die Autoren den Unterschied problematisieren; man hat den Verdacht, dass sie ihn gar nicht erkennen. Das führt beispielsweise zu dem doch recht überraschenden Resultat, dass der Artikel 'Mensch' ohne empirische Befunde etwa zu Geschlecht und Generation auskommt. Die Literaturhinweise bieten auch eher Titel zum Individualismus, zur Entdeckung des Ich oder sogar allgemein zu Geschichtlichkeit und Historismus. Mit dem weitaus differenzierteren Artikel über 'Person' steht der Artikel 'Mensch' denn auch in deutlicher Spannung. Gegliedert ist sein (neben Einleitung und Ausblick einziger) Hauptpunkt über 'Dimensionen der Entstehung des modernen Menschenbildes' (!) in sechs Aspekte: 'Naturalisierung' , 'Vergeistigung' , 'Universalisierung' , 'Säkularisierung' , 'Individualisierung' und 'Historisierung' . Das sind Prozessbegriffe, und letztlich geht es den Autoren um einen Prozess: einen Fortschrittsprozess, den Aufbruch in die Moderne.
Geradezu geglättet werden Aporien, werden Zweifel am Menschenbild der Aufklärung. So findet sich die Behauptung, dass erst das Gleichheitsdenken der Moderne auch 'die Vorstellung einer Gleichheit der Geschlechter' ermöglicht und damit 'die Überzeugungskraft einer allen Hochkulturen eigenen Misogynie' gebrochen habe, auch wenn, wie immerhin eingeräumt wird, die 'rechtliche, politische und soziale Durchsetzung ' bis in die Moderne lediglich ein Postulat' geblieben sei (Bd. 8, Sp. 333). Und mehrfach wird betont, dass das Menschenbild der Aufklärung grundsätzlich auch die Möglichkeit eröffnet habe, alle Menschen, auch fremder Kulturen, einzubeziehen. Durch die Universalisierung sei eine Grenze gegenüber der Ausbeutung und dem Kolonialismus gezogen worden ' jedenfalls im Prinzip. Überhaupt habe die Entwicklung des Menschenbildes die 'Voraussetzungen für eine interkulturelle Kommunikation' geschaffen, 'in der die Kraft ethnozentrischer Inhumanität im Prinzip gebrochen ist' (Bd. 8, Sp. 339). Die Frage scheint dann nur noch, in welchem Maß und wann nun kulturelle Differenz grundsätzlich einbezogen und akzeptiert wird. Am Horizont zeichnet sich für die Autoren die Möglichkeit der '(selbst-)kritischen Beurteilung dieser kulturellen Differenz am Maß der regulativen Idee eines interkulturellen Humanismus' ab (ebd.). Das erscheint in seinem Glauben an die abendländische Moderne, an der die Welt genesen möge, nicht nur ahistorisch und wirklichkeitsfremd, sondern auch erstaunlich naiv, selbst wenn man nicht Foucault und anderen folgen mag. Immerhin müsste man doch zu erklären versuchen, warum erst die Moderne den Rassismus erfand, warum ethnisch begründete Gewalt auch im 20. und 21. Jahrhundert fortlebte, warum erst die bürgerliche Gesellschaft die Ungleichheit der Geschlechter geradezu naturalisierte. Ganz abgesehen davon hätte man auch gern mehr darüber erfahren, was ethnologische und sozialanthropologische Befunde für die hier vertretene geschichtswissenschaftliche Perspektive bedeuten.
Die Beschränkungen des Artikels sind umso erstaunlicher, als gerade die Frühneuzeitforschung hervorragende Möglichkeiten und Befunde bietet, um über 'den Menschen' als Konstruktion und kulturelles Produkt im Spannungsfeld zwischen Selbstentwürfen, Wahrnehmung und sozialem Wandel nachzudenken. In der Enzyklopädie steht dafür zum Beispiel der kleinere Artikel über 'Männlichkeit' , der Vielfalt und Differenz deutlich macht. Gleichzeitig allerdings wirft dieser sehr eindrucksvolle Beitrag auch eine andere Frage auf: Hier wird geradezu axiomatisch betont, dass 'Männlichkeit' wie Geschlecht überhaupt kulturell kodiert, also beständigem historischem Wandel unterworfen sei. Zugleich aber werden Kontinuitäten durchaus angesprochen. Wenn der Zusammenhang von Ehre, Gewalt und Geschlecht völlig zu Recht als zentrale Konstellation ausgeleuchtet wird, dann fällt sofort ins Auge, dass es sich dabei um eine von der Antike bis zu zeitgenössischen 'Ehrenmorden' feststellbare soziale Konstante handelt. Das aber würde gerade eine interessante und innovative Zugangsweise erlauben: Konstanten nicht zu leugnen, sondern zu begründen, Differenz nicht bloß als Beweis beständigen Wandels zu verstehen, sondern als Indiz der Kontinuität von Auseinandersetzungen mit vergleichbaren Herausforderungen, also der unterschiedlichen Antworten auf immer dieselben Fragen. Und diese Fragen lauten: Wie gehen Gesellschaften mit der unabweisbaren Realität von biologischen Geschlechterdifferenzen um, wie integrieren sie die unvermeidbaren biologischen Prozesse von Geburt, Heranwachsen, Altern und Tod, wie kanalisieren sie Generationenkonflikte, wie regeln sie die soziale Konstante der Spannung von Individuum und Gesellschaft?
Das alles sind Fragen, die den diachronen und synchronen Vergleich fordern ' und der ist methodisch nicht möglich, wenn man jede Kontinuität und transkulturelle Gemeinsamkeit leugnet. Das wird in der Enzyklopädie letztlich nicht einhellig gesehen. Einige Artikel nutzen ganz nebenbei erstaunliche Begriffe, sprechen ' so im Beitrag über die ländliche Gesellschaft ' von 'primordialen' Gegebenheiten wie Nachbarschaft und Verwandtschaft (Bd. 7, Sp. 519), worüber man durchaus streiten könnte, oder behaupten gar, wie im Artikel 'Krieg' , eine 'anthropologische Konstante menschlicher Gewaltbereitschaft' zu kennen, nämlich: 'Alle Kriege beginnen als gesellschaftlicher Verständigungsprozess über die Unausweichlichkeit organisierter Gewalt in den Köpfen der Menschen' (Bd. 7, Sp. 160). Wenn man diesen Satz trotz seiner etwas schrägen Grammatik richtig versteht (geht es um die Verständigungsprozesse in den Köpfen, die Gewalt in den Köpfen, oder beginnen die Kriege in den Köpfen?), dann ist er doch fragwürdig, jedenfalls empirisch schwer nachweisbar. Dahinter steht aber das Grundproblem einer Verständigung über die Frage, welche Bedingungen und Bereiche menschlichen Lebens man denn als Konstanten (soziale oder gar anthropologische) anerkennen will und was daraus für die Auseinandersetzung über kulturelle Differenz folgt, die ja mit guten Gründen in der Enzyklopädie immer wieder betont wird. Und wenn man darüber debattieren will, braucht man einen historisch und biologisch fundierten Begriff vom 'Menschen' . Unbestritten ist, dass der angesichts jüngerer Debatten über Medizin, Hirnforschung, Willensfreiheit, Lebensende etc. selbst wieder kulturell begrenzt sein muss.
Je weiter das Werk voranschreitet ' noch sechs Bände sind zu erwarten ' , desto deutlicher treten also die eindrucksvollen Stärken, aber eben auch manche strukturellen Schwächen hervor. Die Enzyklopädie (bislang rund 6000 Seiten) stellt eine gigantische organisatorische Leistung dar, sie präsentiert ein schier unerschöpfliches Wissen, ob über Nutztiere oder über Perlen, über den Pranger oder über die Reitkunst, der Großteil der Artikel bewegt sich auf hohem Niveau und bietet zuverlässige Informationen. Aber sie ist eben doch Spiegelbild der Zeit, der sie entstammt. Und einen Widerspruch gegenwärtiger Vergangenheitsdeutung spiegelt sie, ohne ihn aufzulösen: einerseits den Glauben, dass kulturelle Differenz das Schlüsselphänomen der Geschichte ist, andererseits die Vorstellung, dass doch erst kulturelle Transfers und Vernetzungen die Realität konstituieren.