Zerfall und Wiederbeginn
Vom Erzbistum zum Bistum Mainz (1792/97-1830) ...

Der von Historikern und Theologen verfaßte Aufsatzband gibt einen Überblick über den Weg vom Erzbistum Mainz in der Frühneuzeit bis zu den neuen Bistümern der oberrheinischen Kirchenprovinz im 19. Jahrhundert. Das Spektrum reicht hier von Freiburg und Rottenburg über Mainz bis zu Limburg und Fulda. Inhaltlich geht es um die Auswirkungen der Säkularisation, die von der französisch-napoleonischen Expansion und Herrschaft ausgelöst wurde, und ' zumindest in einer Reihe von Beiträgen ' auch um die längerfristigen Prozesse der Säkularisierung. Neben den staatskirchenrechtlichen, konstitutionellen und organisatorischen Fragen, die damit zusammenhingen, werden die sozialen und mentalen Folgen sowie die Auswirkungen auf Klerus, Ausbildung und Seelsorge behandelt. Der eine oder andere Beitrag aus theologischer Feder läßt die Distanz zum Gegenstand vermissen, in der Regel aber bieten die Aufsätze sorgfältige Analysen, durchgreifende Perspektiven oder zumindest handbuchartig dichte Informationen. Eine Zeittafel rundet den Band ab.
Der mit dem Begriff der Säkularisation bezeichnete Umbruch des frühen 19. Jahrhunderts ist lange vor allem als Zäsur verstanden worden. Der Titel des Buches 'Zerfall und Wiederbeginn' drückt dies aus. Viele Beiträge des Bandes deuten die Umgestaltung aber differenzierter, eher als Transformation. Denn den napoleonischen Reformen gingen die Initiativen der Aufklärungszeit voran, und die neuen Staatswesen und Kirchenorganisationen können auch als Endpunkte eines jahrzehntelangen Reformprozesses verstanden werden. Die Auflösung der geistlichen Fürstentümer und die Säkularisation von Klöstern und geistlichem Vermögen werden auch nicht mehr allein als Abbruch einer religiösen Epoche oder als organisatorische Parallele von Säkularisierung verstanden. Jüngst ist sogar nicht nur die Bedeutung neu erwachender Religiosität im 19. Jahrhundert betont, sondern auch ' aber doch wohl überzogen ' von einem zweiten konfessionellen Zeitalter gesprochen worden. Daran knüpfen die ambitioniertesten Beiträge des Sammelbandes an. Sie erhellen, wie zwiespältig die Erfahrungen im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, wie tiefgreifend die Verstörungen und wie lang anhaltend die Auswirkungen in konfessioneller Hinsicht waren.
Mainz ' die Stadt, das Bistum, die Region ' sind tatsächlich in hohem Maße aussagekräftig: für die Auflösung der alten, aristokratisch geprägten Reichskirche, für den Zugriff des napoleonischen Frankreich, für Grenzen und Scheitern einer deutschen Revolution ('Mainzer Republik'), für den Wandel von Kirche und Religiosität unter dem Einfluß der Modernisierung, schließlich für die Selbstbehauptung und Neufundierung des Religiösen im 19. Jahrhundert. Die ganz unterschiedlich gearteten Beiträge etwa von Franz Dumont, Rudolf Schlögl, Horst Carl oder Rudolf Lill lassen das hervortreten. Am Beispiel von Mainz läßt sich vor allem ersehen, wie widersprüchlich die Transformation von Kirche und Religiosität war. Verunsicherung und Zuversicht gleichermaßen bestimmten die Epoche. Prozesse der Lösung vom Staat gingen mit erneuter staatlicher Privilegierung einher. Der Bestärkung des Konfessionellen entsprach die Vorstellung von der individuellen Gewissensfreiheit in religiösen Fragen. Die Privatisierung der Religion und die Organisation der Religionsgemeinschaften gewissermaßen als Vereine höherer Ordnung entsprach eine zunehmende Politisierung des Religiösen und der Kirche, dies später auch mit parteipolitischem Ausschlag. Der Rückgang der Befugnisse und finanziellen Möglichkeiten der Kirche bedeutete im übrigen auch eine unfreiwillige Konzentration auf Seelsorge und Kulturpflege, die am Ende eine Stärke der Kirche im 19. Jahrhundert ausmachten. Die Krise der Kirche bedingte im übrigen eine Stärkung der Gläubigen und hatte neben vielfältigen sozialen Konsequenzen auch Auswirkungen auf die Geschlechterverhältnisse; während die Bindungskraft von Kirche und Religion unter jungen Männern sank, nahm sie bei Frauen zu. Die Belebung der Volksreligiosität wiederum, die eine Lösung von der Kirche implizierte, führte zu dem Bemühen um Zentralisierung und Rom-Orientierung der Kirche; die spätere ultramontane Bewegung hatte hier ihre Geburtsstunde.
Die Bilanz läßt sich nicht in einer Gewinn- und Verlustrechnung ziehen und auch nicht unter den zu Topoi gewordenen Fragen nach Kontinuität und Wandel oder nach 'Zerfall und Wiederbeginn' fassen. Das Neue, das Kirche und Religiosität nach 1814/15 prägte, ist nicht mit der in dem Band mehrfach angesprochenen Beharrungskraft traditioneller Religiosität zu fassen. Vielmehr war die Transformation, die eben nicht allein mit dem Namen Napoleon abgedeckt ist, nicht nur voller Widersprüche, sie führte auch zu anderen Ergebnissen als intendiert und erwartet. Sie trug jedenfalls dazu bei, daß in der Epoche von Säkularisation und Säkularisierung Kirche und Religion nicht verschwanden, auch nicht bloß als Marginalien oder Anachronismen in der Moderne überlebten, sondern zu wesentlichen Bestandteilen von bürgerlicher Gesellschaft und modernem Staat wurden.