Enzyklopädie der Neuzeit
Bände 3 - 6

Seit 2005 erscheint die 'Enzyklopädie der Neuzeit'. Sie ist auf 16 Bände angelegt (darunter ein Registerband). Jedes Jahr erscheinen zwei Bände, 2012 soll das Werk abgeschlossen sein. Die ersten beiden Bände hat der Rezensent bereits im Wissenschaftlichen Literaturanzeiger vorgestellt. Die weiteren Bände haben das Konzept konsequent und ' wie sich zunehmend herausstellt ' in beeindruckender Konstanz auf hohem Niveau umgesetzt. Die 'Enzyklopädie der Neuzeit' will die europäische Geschichte von 1450 bis 1850 in Schlüssel-, Dach- und Einzelartikeln gestuften Umfangs erfassen. Zur Frage der Zeiteingrenzung und der räumlichen Konzentration auf Europa ist bereits in der vorangegangenen Rezension der ersten beiden Bände einiges gesagt worden, das muss hier nicht wiederholt werden. Es bleibt nach wie vor nicht ganz unproblematisch, wenn in einem solchen durchaus programmatisch angelegten Werk ein eurozentrischer Blickwinkel eingenommen wird, zumal eben unklar bleibt, was Europa ist und wo seine Grenzen liegen. Viele Artikel, die eine transkulturelle Perspektive wählen, können sich auch gar nicht auf Europa beschränken, ganz abgesehen davon, dass eine Reihe von Beiträgen die Beziehungen zum außereuropäischen Raum behandelt, etwa den Japanhandel, oder sich ganz dem außereuropäischen Raum widmet, wie der umfangreiche Beitrag über den Indischen Ozean. Das Gründungskonzept scheint sich hier schon aufzuweichen. Es ist sicher aufschlussreich zu beobachten, wie sich ein solches Konzept über die acht Jahre des Erscheinens hinweg behaupten kann und wandeln muss.
Die neuen Bände sind nach wie vor eine Fundgrube für die gezielte Suche ebenso wie für das zweckfreie Herumstöbern. Es finden sich kompetent resümierende ebenso wie intelligent anregende Artikel. Über Ehre, Gewalt und Ethnizität erfährt man ebenso viel Fundiertes und Interessantes wie über Fäkalienbeseitigung, Familienbibliotheken und Faserpflanzen. Sogar Fußball und Fußnote werden ' immerhin für die Zeit vor 1850 ' akribisch erläutert. Der Fragehorizont ist außerordentlich breit, er umfasst alle historischen Disziplinen und Schwerpunkte von der Verfassungs-, Politik- und Ereignisgeschichte über die Wirtschafts-, Sozial- und Strukturgeschichte bis zur Wissenschafts-, Kultur- und Kunstgeschichte. Wichtig ist in dieser Perspektive (fast) alles, und die Herausgeber beabsichtigen offenbar nicht, abgesehen von der Länge der Beiträge, hier zu hierarchisieren. Dennoch haben einige Artikel eher deskriptiven Charakter, andere haben analytische Tiefenschärfe und zielen auf epochale Charakteristika.
Mit alledem bestätigt die Enzyklopädie auch, dass es sich um ein Generationenprojekt handelt. Obwohl das Feld der Teilherausgeber recht breit gestreut ist, scheint doch eine mittlere Generation von Historikerinnen und Historikern zu dominieren, sie präsentiert ihre Sicht der Geschichte. Diese ist nüchtern, kulturwissenschaftlich inspiriert, aber nicht kulturalistisch abgehoben und schon gar nicht dem linguistic turn verfallen. Die Autoren frönen keiner postmodernen Beliebigkeit, streben in der Mehrzahl aber auch keine wie immer geartete 'Meistererzählung' mehr an und suchen auch keine 'Königswege' der Geschichte oder der Geschichtsschreibung. Sie präsentieren keine Nationalgeschichte(n) und widmen sich ebenso wenig europäischer Identitätsstiftung. Sie wissen um Vielfalt und Wandelbarkeit, und sie nehmen diese nüchtern zur Kenntnis. Manchmal dominiert dann doch die spezifische Deutung eines Autors, etwa im Artikel über 'Freiheit', ohne dass alternative Deutungen ganz klar gemacht würden. Manchmal scheinen auch thematisch zusammenhängende Begriffe allzu sehr von einzelnen Autoren geprägt, so dass man gern abweichende Sichtweisen berücksichtigt fände. Manchmal überschneiden sich wiederum nahe beieinander liegende Artikel inhaltlich, so im Fall von 'Heirat', 'Heiratsalter' und 'Heiratsmuster'. Manchmal schließlich konkurrieren verschiedene Sichtweisen, etwa in den Artikeln über 'Geschichte', 'Geschichtsbewusstsein', 'Geschichtsphilosophie' und 'Geschichtsschreibung'. Beim Stichwort 'Geschichtstheorie' wird übrigens lediglich auf 'Geschichtsphilosophie' verwiesen. Offenbar halten die Herausgeber beide Begriffe für deckungsgleich. Im Beitrag zum Geschichtsbewusstsein schimmern noch alte Schematismen durch, denn er kennt ' allzu apodiktisch ' 'das' Geschichtsbewusstsein in der Neuzeit und zieht eine deutliche Trennlinie zum Mittelalter. Der Artikel spiegelt dabei unfreiwillig den Gegenstand, den er beschreibt, das grundsätzliche und mittlerweile etwas naiv wirkende Vertrauen in den unaufhaltsamen Fortschritt der geschichtswissenschaftlichen (Selbst-)Erkenntnis. Doch dominierend ist derartiges in der 'Enzyklopädie' nicht.
In anderen, empirisch fundierten Artikeln schleifen sich die Zäsuren zwischen Mittelalter und Neuzeit geradezu ab, etwa in den Artikeln zur Geschichte von Familie, Kindheit und Jugend ' auch wenn dadurch Konzeption und Zeitgrenzen der 'Enzyklopädie' etwas relativiert werden. Doch in derartigen Artikeln öffnet sich die 'Enzyklopädie' auch für Zweifel, für Ungewissheiten, die aber nicht als Wesensmerkmale der Moderne, sondern als Kern jeden Forschungsprozesses erscheinen. Das betrifft beispielsweise das große Feld der Emotionen, das auch deshalb Erwähnung verdient, weil es eben noch nicht befriedigend behandelt werden kann, weil vielmehr Unklarheiten konstatiert werden müssen. Dies schlägt sich in dem durchaus aufschlussreichen Artikel über 'Gefühl' nieder. Andeutungen über 'zivilisierte' oder 'wildere' Gefühle helfen nicht recht weiter, selbst wenn die Begriffe in Anführungszeichen gesetzt werden. Beim Gefühl verlassen sich Historiker bislang noch allzu gern auf ihr Gefühl: Was etwa Liebe ist, inwiefern sie historisch und kulturell wandelbar ist, wie sie, wie Gefühle überhaupt jenseits von Literatur und 'Hochkultur' erforscht werden können ' das erscheint letztlich trotz vieler Versuche der Historischen Anthropologie noch recht offen. Präzise und klar ist allerdings der Artikel über Ehre, der Wandelbarkeit und Bedeutung des Phänomens handfest beschreibt. In der jüngeren Literatur besteht aber merkwürdige Unsicherheit darüber, ob Ehre zu den Emotionen zu zählen sei, gewissermaßen reduziert auf das Ehrgefühl ' und damit wird dann der sichere Boden zugunsten der Spekulation verlassen. Weiterer Erörterung bedürfen auch die Beiträge über Generationen, Generationenbewusstsein, Generationenkonflikt und Generationentransfer, die ohne Karl Mannheim und die daran anknüpfenden Debatten auskommen. Da hätte man vielleicht stärker von der zeithistorischen Forschung zu Generationen und Generationalität profitieren können. Hier wie öfter wirkt der ' zugegebenermaßen immer naheliegende ' Verweis auf Zedlers Universalenzyklopädie des 18. Jahrhunderts im Übrigen schon fast ermüdend. Und hier wie öfter hätte eben doch der Blick auf Außereuropäisches, zumal die breitere Einbeziehung ethnologischer Forschung, tiefere Erkenntnisse auch über Europäisches vermitteln können. Die ' sehr ungleichmäßig durchgehaltene und unterschiedlich interpretierte ' Konzentration auf Europa bleibt das Grundproblem der 'Enzyklopädie'. Vielleicht ist die 'Enzyklopädie' gerade dadurch aber auch Spiegelbild aktueller politischer und wissenschaftlicher Kontroversen und Indikator künftiger Entwicklungen.