Der Mensch glaubte. Er glaubte, dass Könige und Fürsten von Gottes Gnaden regieren, dass Untertanen auf ewig Untertanen bleiben müssen und Sünder sich von ihrer Schuld freikaufen können, dass es Frauen gibt, die als Hexen mit dem Teufel im Bunde stehen und man sie deshalb verbrennen dürfe. Man glaubte Vieles – vor allem aber, dass man zu glauben habe.
In diese Düsternis bricht im 17. Jahrhundert eine philosophische Strömung namens Aufklärung wie ein rettender Lichtstrahl ein, und zwar mit einer geradezu ungeheuerlichen Aufforderung: Glaubt nicht – denkt! Wagt, euren eigenen Verstand zu benutzen!
Der Literaturwissenschaftler Manfred Geier zeichnet detailliert den Weg dieser neuen geistesgeschichtlichen Strömung in England, Frankreich und Deutschland nach – bis in die unmittelbare Gegenwart hinein.
Als europäisches Projekt begann die Aufklärung in England. John Locke war ihr originellster und einflussreichster Initiator. Als der „Mann, der zu Shaftesbury gehörte“, hat er „ab 1667 angefangen, sich seine eigenen Gedanken über religiöse Toleranz, die Grundlagen des menschlichen Verstandes und die Legitimation politischer Macht zu machen. Die Glorreiche Revolution von 1688 hat seine Ideen populär werden lassen“; noch ein Voltaire wird sich auf ihn berufen. Von John Locke, so Manfred Geier weiter, gingen „die wichtigsten Impulse einer politischen und philosophischen Entwicklung aus, die das 18. Jahrhundert zu einem europäischen Zeitalter der Aufklärung werden ließen“.
Nach England spielt zunächst Frankreich die wichtigste Rolle. „Den Wendepunkt bildete 1715 der Tod Ludwigs XIV., dessen absolutistischer Glanz und Stolz zuvor die englische Kultur überschattete. Doch nun war der Weg frei geworden für einen intensiven Geistesverkehr zwischen Frankreich und England, der für die sozialen und politischen Schicksale der europäischen Nationen ebenso wichtig wurde wie für das Denken der Moderne.“ Es sind französische Philosophen, die die englische Anregung aufnehmen und auf ihre Weise weiterentwickeln. Sie sind „schärfer, kritischer, kühner und respektloser als ihre englischen Vorläufer.“
Aber was macht ihr Denken aus? Was bedeutet es, noch für uns Heutige? Warum ist das europäische „Projekt Aufklärung“ das wohl bedeutendste, das je von Menschen in Angriff genommen wurde; warum fasziniert und bewegt es uns heute immer noch - und nicht allein deshalb, weil dieses Projekt seinem ganzen Wesen nach immer noch zu keinem Abschluss gekommen ist?
Die entscheidende Antwort liegt in dem Projekt selbst, d.h. von dem, was es von uns einfordert: Selbstdenken, also abgeschmackte, vorgefertigte Meinungen hinter uns zu lassen und uns auf das Risiko des Irrtums, des Scheiterns einzulassen – immer noch kann dies auch heute im äußersten Fall gesellschaftliches Außenseitertum bedeuten, denn wem es ernst ist mit dem Selbstdenken, macht sich nicht unbedingt beliebt.
Am Anfang ist da das Bild: Wie morgens der Himmel aufklart und die nächtliche Dunkelheit vertrieben wird, „so soll der menschliche Verstand erhellt werden. Aufklärung ist ein bildlicher Ausdruck. Wenn die Sonne durch den düstern Dunstkreis bricht und der Wind die trüben Wolken zerstreut, dann klärt sich der Himmel auf, und wenn der prüfende Verstand die Wolken des Aberglaubens, der uralten Vorurteile und abgeschmackten Autoritäten zerstreut, so wird es Licht in den Köpfen. Aufklärung heißt unbildlich Würdigung der Dinge nach Vernunftgründen und nicht nach vorgefassten Meinungen und alten Gewohnheiten, oder kürzer: ‚Berichtigung der Begriffe.‘“ So lautet die Definition von Carl Julius Weber (1767-1832), einem Zeitgenossen Moses Mendelssohns, im „Demokritos“.
Bereits 1691 wird der Ausdruck „Aufklärung des Verstandes“ lexikalisch verzeichnet. Helle Köpfe sollen mittels deutlicher Begriffe und geschärfter Urteilkraft erkennen können, was „wirklich der Fall ist“. Das bedeutet: „Aufklärung“ ist eine vernunftorientierte Kampfidee gegen „dunkle Vorstellungen“, d.h. Aberglaube, der alles in einem Dunkel der geistigen Unmündigkeit belässt. Das Projekt „Aufklärung“ richtet sich gegen Aberglaube und religiöse Schwärmerei, Vorurteile und Fanatismus, Borniertheit, Voreingenommenheit und blinde Autoritätshörigkeit. Sie ist „zugleich eine positive Programmidee für den richtigen Gebrauch des eigenen Verstandes“, so Geier.
Ein wichtiges Element, „woran ein aufklärerischer Mensch selbsterhaltend interessiert sein sollte“, erklärt Heinz Knobloch in seiner Moses-Mendelssohn-Biographie (2. A. 1987), „ist der Gedankenaustausch. Mit seinesgleichen und mit anderen, die eine andere Meinung vortragen, denn es ist nicht gut, wenn alle sich gegenseitig nur freudig belobigen – wozu Allgemeinplätze, wenn Konkretes zu bieten ist: In den vierziger Jahren jenes Jahrhunderts waren als Neuheit öffentliche Kaffeehäuser aufgekommen. Der anregende neue Trank, der die Gedankentätigkeit in dem Maße förderte, wie höfische Schokolade sie dämpfte und verstopfte, führte zu Gesprächen.“
Mittelpunkt dieser Diskussionen waren auch die Salons – und hier waren oft die Frauen tonangebend. Waren es im Frankreich des 17. Jahrhunderts noch die adligen Frauen, waren es im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts bürgerliche Frauen – und hier besonders die Jüdinnen. Legendär ist der Salon (der in Wirklichkeit wohl nur eine Art Dachstube war) von Rahel Levin Varnhagen, die als kritische Denkerin den Begriff der „Vernunft“ als bloße „Vernünftigkeit“ kritisch durchleuchtete und ad absurdum führte: „… und was kann ein Frauenzimmer dafür, wenn es auch ein Mensch ist? […] Ein ohnmächtiges Wesen, dem es für nichts gerechnet wird, nun so zu Haus zu sitzen, und das Himmel und Erde, Menschen und Vieh wider sich hätte, wenn es weg wollte… und richtig zu Haus bleiben muss, und das, wenn´s mouvements (Bewegungen) macht, die merklich sind, Vorwürfe aller Art verschlucken muss, die man ihm mit raison (Vernunft) macht; weil es wirklich nicht raison ist zu schüttlen; dann fallen die Gläser, die Spinnrocken, die Flore, die Nähzeuge weg, so haut alles ein.“ Eine Frau soll vernünftig sein; Vernunft braucht sie nicht zu haben. Daran nahmen denkende Frauen immer wieder Anstoß.
Denn die Ideen der Aufklärung wurden pervertiert, wo sie von einer Gleichheit aller ausgeht – ohne auf die Kritik und Einwände der Minderheiten zu hören – und so ihrem eigenen Ideal untreu wurde. Wir wissen heute, dass die Aufklärung gescheitert ist. Das Projekt „Aufklärung“ so das Resümee von Hans Mayer in seiner kritischen Untersuchung „Außenseiter“ (1975) scheiterte an seinen Außenseitern: an den Homosexuellen, an „Monstren“, d.h. Anomalien, an den Juden – und an den Frauen. Dabei haben Juden wie Moses Mendelssohn (1729-1786) und besonders während der Französischen Revolution auch Frauen sich immer wieder zu Wort zu melden versucht. Ihre Bemühungen, für die Menschenrechte der Frau zu kämpfen (denn alle Menschenrechtserklärungen, von der französischen von 1792 bis zur amerikanischen „Bill of Rights“ von 1789 waren Männerrechte; auch die Befreiung der Sklaven war in der amerikanischen Verfassung nicht vorgesehen) wurden totgeschwiegen; rund 200 Jahre blieb die „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ von Olympe de Gouges (1748-1793) unbeachtet; erst die Feministinnen des späten 20. Jahrhunderts entdeckten sie wieder. Der Fall „Olympe de Gouges“ zeigt uns: Das Zeitalter der Aufklärung ist nicht automatisch ein aufgeklärtes Zeitalter, eine Unterscheidung, die Immanuel Kant 1784 machte.
Moses Mendelssohn war es noch zufrieden gewesen, „geringster Bürger“ eines aufgeklärten Staates zu sein, in dem er „dankbar“ seine Religion ausüben durfte. Der nach ihm folgenden Generation junger Juden und Jüdinnen wird das nicht genug sein. Doch um die gleichen Rechte wie die Christen zu erhalten, mussten sie ihr Judentum aufgeben und sich taufen lassen; Heinrich Heine nannte die Taufe das „Entreebillet in die europäische Kultur“; für Rahel Levin, nunmehrige Friederike Robert, war und blieb die jüdische Herkunft ein „schielendes Geschick“, das ihr angewachsen war wie dem Lahmen ein zu kurzes Bein.
Im jungen Amerika war die Situation anders. George Washington schrieb als erster Präsident der noch ganz jungen, noch taufrisch demokratischen Staaten an die Jüdische Gemeinde von Newport im Staate Rhode Island: „Jeder besitzt die gleiche Freiheit des Gewissens und der Unverletzlichkeit seiner bürgerlichen Rechte. Es geht nicht mehr an, von Toleranz zu sprechen, als ob es von der Gnade einer Klasse abhinge, dass die andere in den Genuss der ihr angeborenen Rechte komme.“
Dieser Mann, drei Jahre jünger als Moses, garantierte den wenigen amerikanischen jüdischen Gemeinden, die zu jener Zeit bestanden, freie Religionsausübung. Während des amerikanischen Befreiungskrieges dienten Juden an hervorragender Stelle in seiner Armee – im Preußen jener Zeit blieben Juden vom Militärdienst ausgeschlossen, mussten besondere Abgaben zahlen, waren in sechs verschiedene Klassen, je nach Einkommen, eingeteilt – wer kein Einkommen hatte, wurde aus der Stadt gewiesen. Diese „Judenreglements“ von 1730 und noch 1750 nannte Graf Mirabeau „eines Kannibalen würdig“. Die ganze Gemeinde haftete für Konkurse, Diebstähle und andere Verbrechen ihrer Mitglieder. Die Lage änderte sich erst Anfang des 19. Jahrhunderts im Gefolge der napoleonischen Eroberungen.
Freiheit war nur im Denken möglich. Das gilt für den mittellosen Juden, der erst spät ein „Generalprivileg“ zuerkannt bekam, ebenso wie für die Frauen. Lotete Mendelssohn – provoziert durch den allzu eifrigen Bekehrungsversuch Lavaters – die Spannungen zwischen jüdischer Religion und wissenschaftlicher Vernunft aus und fügte der Königsberger Philosoph Immanuel Kant der Aufklärung noch eine weltpolitische Dimension hinzu, so kämpften die Frauen Frankreichs um Elementares: um gleiche Rechte wie der Mann. Olympe de Gouges forderte, wenn die Frau das Recht auf das Schafott habe, müsse sie auch das Recht auf die Tribüne, d. h. politische Mitwirkung, haben. Ihr eigenes Leben wurde zur tragischen Antwort darauf: Weil sie sich und anderen Frauen das Recht auf die Tribüne erkämpfen wollte, endete sie auf dem Schafott, geköpft von den Söhnen der bürgerlichen Revolution. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ wollte sie„Schwesterlichkeit“ hinzusetzen – sie zahlte es mit ihrem Leben.
Sie wollten Licht ins Dunkel bringen. Von Voltaire bis d’Holbach, von Diderot und Rousseau bis d’Alembert und Helvétius reichte die Phalanx der Macht- und Religionskritiker, die sich nur an der Vernunft orientieren wollten und die bestehenden Verhältnisse radikal kritisierten. Das große Projekt einer „Enzyklopädie“, eines Kompendiums des Wissens der Zeit, bedeutete zugleich ein kritisches Unternehmen gegen theologisches Scheinwissen und absolutistische Herrschaftsanmaßung. Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“ (contrat social) war ein institutionenpolitisches Gründungsdokument für die Souveränität eines Volkes freier Menschen, die nur ihrem Gemeinwillen (volonté générale) folgten. Und bereits im ersten Band der „Enzyklopädie“ war 1751 in Diderots Beitrag „Autorité politique“ (Politische Autorität) zu lesen: „Kein Mensch hat von der Natur das Recht erhalten, den anderen zu gebieten. Die Freiheit ist ein Geschenk des Himmels, und jedes Individuum derselben Art hat das Recht, sie zu genießen, sobald es Vernunft besitzt.“ Wie gesagt, gilt dies – bis weit ins 21. Jahrhundert hinein – nur für den männlichen Teil der Menschen.
1786 schreibt Kant in „Was es heißt, sich im Denken zu orientieren“: „Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d.i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung“ - eine immer noch aktuelle Definition.
Aufklärung – eine Forderung an jedes Individuum – ein bedeutendes Projekt nicht nur eines Jahrhunderts. Manfred Geier führt uns mit zahlreichen Beispielen und Biographien von John Locke in die Problematik ein. Was ich vermisse: eine ebenso umfassende Aufklärungskritik, wie sie z. B. Hans Mayer leistete.