"Zu sein, eine Aufgabe."
Andreas Maier und die Philosophien von Meister Eckhart und Carlo Michelstaedter

"Wahrheit hat mit Sprache nichts zu tun". Andreas Maiers Grundsatz zitiert Yvonne Hütter gleich mehrfach, um zu zeigen, wie dieser sein literarisches Programm um die Unterscheidung von ,Wahrheit' und ,Sprache' herum aufbaut. Maier gilt seit seinem Wettbewerbsbeitrag bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur 2000 in Klagenfurt gewöhnlich als Meister des Konjunktivs, kauziger Heimatschriftsteller und mitunter Epigone wie auch scharfer Kritiker Thomas Bernhards. In der Zwischenzeit, mehrfach ausgezeichnet, hat er fünf viel beachtete Romane vorgelegt, von denen Hütter die drei ersten mit Blick auf die Konzeption des Verhältnisses von Sein, Wahrheit, Sprache und Gesellschaft untersucht. Der Literaturwissenschaftlerin geht es insbesondere darum, sich einerseits an Maiers Verständnis von Wahrheit 'heranzutasten' (11) und dabei andererseits zu analysieren, 'wie genau Maier Wahrheit formal in seinen Werken auflöst, wo sie sich dennoch findet und worin sie besteht' (11). Als die zwei zentralen Referenzen für Maiers Programm stellt sie Meister Eckhart und Carlo Michelstaedter heraus.

Die umfangreiche, mehr als 450 Seiten umfassende Studie ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil stellt in zwei Kapiteln die Philosophien Eckharts und Michelstaedters vor, wobei sich Hütter im sich anschließenden Gang durch die Romane vor allem auf Michelstaedter bezieht und nur punktuell auf Eckhart zurückkommt. Im Zentrum steht dabei der Anspruch, die Grundlagen von Maiers 'existenzielle[r] Verweigerungshaltung' (23) und seiner 'Seinsethik' (23) herauszuarbeiten. Der zweite, weitaus wichtigere und nicht zuletzt deshalb auch umfangreichere Teil setzt sich mit Maiers ersten drei Romanen auseinander. Hütter analysiert 'Wäldchestag' (2000), 'Klausen' (2002) und 'Kirillow' (2005) zunächst erzähltheoretisch (v.a. Erzählsituation, Figurenzeichnung), um herauszuarbeiten, wie ,Wahrheit' im Sinne Michelstaedters und Eckharts in Maiers Romanen formal aufgelöst wird. Die wesentlichen Verfahren sind demzufolge der Einsatz von unzuverlässigen Erzählern und Figuren, die einen zweifelhaften Status genießen.

Trotz dieser umfassend eingesetzten 'Methode der Wahrheitsvermeidung' (217), die darauf abzielt, Gesellschaft und Sprache als jenseits von ,Wahrheit' und ,Sein' zu verorten, schafft es Maier Hütter zufolge dennoch, 'etwas zu transportieren' (252). Die letzten Kapitel der Arbeit setzen sich mit diesen 'kritischen Spuren' (252) von 'utopische[n] Gegenmodelle[n]' (252) in den Texten auseinander. Als zentral erweist sich in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass die in Maiers Literatur skizzierten, auf Michelstaedter zurückverweisenden Aussichten auf ein ,wahres Sein' jenseits des gesellschaftlichen Geredes grundsätzlich offen gelassen und gerade nicht mit letzter Konsequenz zu Ende geführt werden. Indem sämtliche Figuren sowie die Erzähler selbst in das Gerede der erzählten Welt eingelassen sind, sich also nicht über die eigenen Prämissen erheben, geht Maier nach Hütter schließlich einen Schritt weiter als das letztlich tragische Schreiben Michelstaedters. Denn anders als bei dem Philosophen, der dem Verhängnis der Selbstreferenz unterliege, sei in Maiers Literatur 'Wahrheit de facto nicht zu finden' (461).
Das Ergebnis von Hütters Studie ist überzeugend, insbesondere die Analysen zur Erzählsituation und zur Figurenzeichnung sowie zu Maiers Konzeption von Gesellschaft und Sprache stechen heraus. Um ihre Argumentation zu stützen, bezieht sich Hütter ausgiebig auf Rezensionen, Besprechungen und Interviews, die zu Maiers Romanen erschienen sind. Werden Literaturkritiker wie Ulrich Greiner gleich mehrfach an unterschiedlichen Stellen der Studie zitiert, führt Hütter in den Fußnoten gleichsam einen Feldzug gegen Thomas Steinfeld, der Maiers Romanen gegenüber kritisch eingestellt ist. Folge dieser engen Orientierung am literaturkritischen Gestus, den eigenen Gegenstand unbedingt bewerten zu müssen, ist, dass Hütter Maiers vierten Roman 'Sanssouci' (2009) aus ihrer Untersuchung explizit ausblendet und dies mit der mangelnden Qualität des Textes begründet. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist dieses Selektions-Argument nicht legitim.

Ebenso könnte es der engen Bindung an die Literaturkritik geschuldet sein, dass Hütter sich immer wieder eher vager Formulierungen wie 'Was bleibt, ist ein gewisser verfremdender Nachgeschmack' (158) oder 'Das ist wirklich eine tolle Pointe!' (357) bedient und an zahlreichen Stellen Ausdrücke wie 'besondere Aufladung' (224), 'Komisch' (102) oder das vermutlich ironisch gemeinte Bernhardsche 'naturgemäß' (150, Fn 190) verwendet. Was möglicherweise eine gewisse Lässigkeit oder auch trotzige Begeisterung im Umgang mit dem literarischen Gegenstand demonstrieren soll, wirkt indes gewollt flapsig und stört mitunter die Genauigkeit. Denn was ist etwa unter Ausrufen wie 'Ominös, ominös' (171) oder 'kurios!' (106) zu verstehen? Nähert sich Hütter mit solchen Formulierungen ' gewollt oder ungewollt ' durchaus dem Stil von Maiers Dissertation zu Bernhard an, bleibt bei ihr das, was ,Wahrheit' ist, nämlich letztlich genauso unklar wie bei Maier selbst. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass das, was der Studie als Gerede oder Gerücht gilt, theoretisch wenig, wenn überhaupt reflektiert wird. Symptom dieser geringen theoretischen Fundierung ist nicht zuletzt Hütters Umgang mit Zitaten: Die Studie reiht auf nahezu jeder Seite unkommentiert umfangreiche Zitate aneinander, so dass zum Teil der Eindruck entsteht, sie setze sich aus nichts als diesen Zitat-Kaskaden zusammen.

Gleichwohl liegt mit Hütters Studie, die an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation entstanden ist, eine erste große, letztlich argumentativ überzeugende Arbeit zum erzählerischen Werk Andreas Maiers vor. Zum einen bietet sie interessierten Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftlern einen fundierten Überblick über das literarische Programm Andreas Maiers im Fahrwasser der Philosophien Michelstaedters und Eckharts. Zum anderen stellt sie fundierte Detailanalysen der drei ersten Romane Maiers bereit. Und gerade in diesem Zusammenspiel von Überblick und close reading liegt die Stärke von Hütters Studie, an der die literaturwissenschaftliche Erforschung des Maierschen Programms in Zukunft wohl nicht vorbeikommen wird.