Einführung in die Erzähltextanalyse

Einführungen in die Erzähltheorie(n) und Narratologie(n) sehen sich grundsätzlich mit zumindest zwei Problemen konfrontiert: Zum einen zeichnet sich nahezu jeder der erzähltheoretischen Ansätze ' bei allen Unterschieden im Einzelnen ' durch den Anspruch auf Systematik aus: Wozu diesen also noch eine weitere hinzufügen? Zum anderen sind bereits eine Reihe bewährter ('klassischer') Einführungen in die Erzähltheorie auf dem Markt: Wieso soll also noch eine weitere Einführung etwas leisten, das nicht schon die anderen leisten?
Beide Legitimationshindernisse überwindet Silke Lahns und Jan Christoph Meisters im Metzler Verlag erschienene 'Einführung in die Erzähltextanalyse' auf beeindruckende Weise. Sie (und mit ihr Leserin und Leser) behält trotz der kaum zu überschauenden Fachtermini, die das Feld der Erzählforschung(en) charakterisieren, stets den Überblick. Dabei ist der Aufbau des unter der Mitarbeit von weiteren sieben Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftlern aus unterschiedlichen Philologien entstandenen Bandes zunächst recht konventionell angelegt: Neben der grundlegenden Frage 'Was ist Erzählen?' (1. Kapitel) und einem kurzen Abriss der 'Geschichte der Erzähltheorie' (2. Kapitel) wird sein Herzstück durch die drei Dimensionen des Erzähltextes bestimmt (4. Kapitel): Wer erzählt die Geschichte? Wie erzählt der Erzähler? Was erzählt der Erzähler? Und genau hier lösen die Verfasserinnen denn auch ihr Versprechen ein, die verschiedenen Ansätze der Erzähltheorie(n) und Narratologie(n) nicht einfach nur nebeneinander zu stellen, sondern systematisch zu integrieren, 'soweit dies sinnvoll und sachlich gerechtfertigt ist' (S. X). Dabei ist es vor allem die Erzähltheorie (und -terminologie) Gérard Genettes, die einerseits als Basis der Auseinandersetzung mit grundlegenden erzähltheoretischen Fragestellungen dient und andererseits als Ankerpunkt für Ausflüge zu anderen (zum Teil konkurrierenden) Ansätzen fungiert. So wird zum Beispiel der Begriff des unzuverlässigen Erzählens (Wayne C. Booth) anhand der Genetteschen Unterscheidung von homodiegetischem und heterodiegetischem Erzähler diskutiert. Darüber hinaus blicken Silke Lahn und Jan Christoph Meister jedoch auch über den engeren Rand der Erzählforschung hinaus, indem sie auf die Bedeutung von Paratexten für die Textbeschreibung und Textinterpretation eingehen (3. Kapitel) oder mit dem Bezug etwa auf Film und audiovisuelle Darstellungsmittel auch andere Medien als das Buch unter erzähltheoretischen Gesichtspunkten thematisieren (5. Kapitel).
Die sehr übersichtliche Strukturierung und die klare Sprache, die die Vielzahl an neuen (und für die meisten Leserinnen und Leser ungewohnten) Fachbegriffen verständlich vorstellt und erläutert, wird durch den hohen Didaktisierungsgrad unterstützt, der die Einführung auszeichnet und von ihren Vorgängerinnen angenehm abhebt. Dabei helfen den Leserinnen und Lesern insbesondere die zahlreichen Abbildungen und Schaubilder, die das im Text jeweils Erläuterte kurz und prägnant zusammenfassen. Grafiken am Anfang eines Kapitels geben bereits vorab einen Überblick über das, was im Kapitel ausführlicher erklärt wird, und viele, auch optisch hervorgehobene Definitionskästen erleichtern es, bei der Fülle an Informationen den Blick für das Wesentliche nicht zu verlieren. Gleiches gilt für die Vielzahl an konkreten und äußerst anschaulichen Interpretationsskizzen zu verschiedensten Werken der Weltliteratur, die darüber hinaus großzügig und leserinnenfreundlich zitiert werden. Jedes Kapitel wird zudem mit konkreten Leitfragen zur erzähltechnischen Analyse sowie Literaturhinweisen abgeschlossen. Ein umfassendes Glossar erzähltheoretischer Grundbegriffe sowie ein Sach-, Personen- und Titelregister am Ende runden die durchweg gelungene Einführung ab.
Dass Silke Lahns und Jan Christoph Meisters 'Einführung in die Erzähltextanalyse' nicht alles abdecken kann, liegt auf der Hand ' und so fehlen etwa Fragen des Verhältnisses von Poststrukturalismus und Narratologie. Das ist aber auch gar nicht notwendig. Das besondere Merkmal der Einführung ist vielmehr die gelungene Kombination aus einerseits Überblicksdarstellung zu Ansätzen der (vor allem, aber nicht nur) strukturalistischen ('klassischen') Narratologie und andererseits konkreten, didaktisch hervorragend umgesetzten und immer passenden Detailanalysen. Sie bietet genau deshalb überaus viele Anschlussstellen und Orientierungshinweise (nicht nur) für Studierende der Literaturwissenschaft(en), die sich einen fundierten, sehr verständlichen Überblick über das verschaffen möchten, was Erzählforschung leisten kann.