"Ich habe Angst vor dem Erzählen"
Eine Systemtheorie experimenteller Prosa

Hält sich seit geraumer Zeit hartnäckig das Gerücht, die Literatur- und Kulturwissenschaften befänden sich im Paradigma 'nach der Theorie', hat sich eine vor allem systemtheoretisch informierte Literaturtheorie zur Aufgabe gemacht, eben diese literaturwissenschaftliche Selbstbeschreibung zu beobachten und daraus Konsequenzen für das eigene Tun zu ziehen. Dabei geht es nicht zuletzt darum, das Projekt einer Metatheorie zur Literaturtheorie voranzutreiben, die sich als integrative und reflexive Literaturwissenschaft versteht. Gesucht wird die Theorie 'nach der Theorie'; und insbesondere Systemtheorie kristallisiert sich auf dieser Suche zunehmend als vielversprechendes Reflexionsmedium heraus. Wenn nun Mario Grizelj eine 'Systemtheorie experimenteller Prosa' vorlegt, dann verortet er sich auf dieser Abstraktionsebene einer Theorietheorie. Anhand experimenteller Prosa möchte er zeigen, dass und wie eine reflexive Literaturwissenschaft sich im Interpretieren von Texten 'als Interpretation ausstellt und damit sich und ihr Objekt konstituiert' (15).

Um diese These entfalten zu können, diskutiert die Studie im Wesentlichen Begriffe der soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns und deren Anschlussfähigkeit mit Ansätzen literaturwissenschaftlicher Text-, Werk- und Erzähltheorien. Grundlegend ist dabei die Unterscheidung von Medium und Form, die Grizelj sowohl auf das Problem von Text und Werk bezieht als auch so einsetzt, das Verhältnis von Bewusstsein und Kommunikation sowie sozialer und symbolischer Referenz literarischer Kommunikation beschreiben zu können. Der theoretische Teil der Studie mündet in einem komplexen Erzähl-Modell, das auf der ' wiederum im Medium-Form-Paradigma angelegten ' Unterscheidung von Narration und Narrativität basiert und Grizeljs theoretische Anstrengungen zusammenführt. Die Arbeit schließt mit Interpretationen zur experimentellen Literatur Konrad Bayers, Jürgen Beckers und Friederike Mayröckers, die nicht als Praxis oder Anwendung der zuvor entwickelten Theorie zu lesen seien. Im Durchgang durch die Werke werde vielmehr 'die Theorie [...] refiguriert' (22).

Im Überblick dient die soziologische Systemtheorie Grizelj zum einen dazu, den Gegenstandsbezug seines Ansatzes selbstreflexiv profilieren zu können. Demnach liege das Experimentelle der untersuchten Texte nicht 'in den Texten', sondern experimentelle Literatur etabliere sich über die Art und Weise, wie Beobachter sie beobachten. ''Experimentelle Literatur' ist ein Epiphänomen von Beobachtungsbeobachtungsverschleifungen' (304), also eines komplexen Zusammenspiels von Alltagswissen, literarischer Sozialisation, Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, die ' indem sie Literatur beobachten ' ihren Gegenstand immer erst konstituieren. Die system- beziehungsweise differenztheoretische Anlage ermöglicht zum anderen, dies alles mitzubeobachten, mithin ein äußerst komplexes Modell von Literatur und insbesondere experimenteller Prosa vorzustellen. Grizelj versteht experimentelle Prosa als eine Form von Literatur, die die strukturelle Kopplung von Kommunikation und Bewusstsein nicht nur operativ vollzieht, sondern auch und gerade zu ihrem Gegenstand macht. Sie konstituiere sich gleichsam als eine Literatur zweiter Ordnung. Während Literatur abstrakt als Einheit von sozialer und symbolischer Referenz und als Einheit von Bewusstsein und Kommunikation zu verstehen sei, werde experimentelle Prosa als Gesellschafts-, Bewusstseins- und damit Wirklichkeitsvollzug als das Medium der Sinn- und Identitätsbildung schlechthin sichtbar. An ihr lasse sich nicht nur etwas über die Möglichkeiten und Grenzen der Literatur ablesen, sondern 'Wirklichkeitsher(aus)stellungsmodi' (346) allgemein beobachten.

Grizeljs gut 500 Seiten umfassende Studie, die als Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München entstanden ist, ist ohne jede Einschränkung eine vorbildlich argumentierende, sehr interessante, hervorragend informierte Arbeit zum Zusammendenken von System- und Erzähltheorie mit einem hohen selbstreflexiven Anspruch. Sie bietet sowohl systemtheoretisch als auch erzähltheoretisch Interessierten zahlreiche Anregungen für weitergehendere Überlegungen, insbesondere ' um einen Punkt herauszugreifen ' zum Verhältnis von sozialer und symbolischer Referenz literarischer Kommunikation und dem damit angesprochenen (nicht zuletzt systemtheoretischen!) Problem der Unterscheidung von Text und Kommunikation. Man merkt der Arbeit Grizeljs Spaß, Freude, aber auch Anstrengung im Kampf um theoretische, begriffliche Präzision an.

Und gerade deshalb wirft die Studie vor allem eine Frage auf: nämlich die nach der Theorie 'nach der Theorie'. Ist deren Status wirklich nur als Theorie der Theorie denkbar, beobachtbar? Mario Grizelj vollzieht die Leerstelle 'nach der Theorie' metaisierend und performiert damit die eigene Vorläufigkeit. Denn was kommt nach der Theorietheorie? Theorietheorietheorie? Ist Metaisierung vor diesem Hintergrund überhaupt (theoretisch) sinnvoll? Zur Disposition steht dabei nicht so sehr das Problem, ob und wie eine systemtheoretische Literaturwissenschaft sich als vermeintlich abgehobene Selbstreferenzschleife inszeniert, mithin nur den vermeintlich systemtheoretischen Sound pflegt. Diese Fragen sind Nebenschauplätze - zumal dieser Sound am wenigsten bei Luhmann selbst anzutreffen ist. Das Problem, wie mit der Leerstelle 'nach der Theorie' umzugehen ist, stellt sich viel grundlegender und verweist möglicherweise auf den blinden Fleck der Metatheorie zur Literaturtheorie: Könnte man nicht auch den Blick jenseits theoretischer Metaisierung schweifen lassen und fragen, welche Wege außerhalb dieses Paradigmas sich denken ließen? Vielleicht würde sich die Theorie 'nach der Theorie' dann gerade durch einen pragmatischen Umgang mit Theorien auszeichnen. Vielleicht ergäben sich pragmatische, wie immer theoretische Partialkonstruktionen, die ihre eigene Reichweite jeweils immer auch mitkommunizierten und sich nicht so sehr um theoretische Überbietung bemühten. Denn was ließe sich (theoretisch) nicht überbieten?