So sehr das Schlagwort 'Intertextualität' 'postmoderne' Schreibweisen prägt, so sehr scheint es sich als theoretisches Konzept für die Praxis literaturwissenschaftlichen Arbeitens als sperrig zu erweisen. An welcher Stelle im uferlosen Textgewebe soll man ansetzen und wo aufhören? Elena Wassmann weiß das natürlich. Ihrer im Universitätsverlag Röhrig erschienenen Studie zur 'Novelle als Gegenwartsliteratur' legt sie denn auch einen deutlich eingeschränkten Intertextualitätsbegriff zugrunde. Das Problem, das sie interessiert, geht der Frage nach, wie 'das postmoderne Credo von der 'neuen Beliebigkeit' mit ihrer Aufweichung der Gattungsgrenzen und die Rückkehr der 'strengen' Novellenform' (113) miteinander vereinbar sind.
Ausgangspunkt von Wassmanns Analysen ist Martin Walsers Novelle 'Ein fliehendes Pferd' (1978), die sie als Prätext' einer 'neuen Reihe' der Novelle in der Gegenwartsliteratur versteht. Hier und in den sich anschließenden detaillierten Einzelanalysen von Friedrich Dürrenmatts 'Der Auftrag' (1986), Patrick Süskinds 'Die Taube' (1987) und Günter Grass' 'Im Krebsgang' (2002) argumentiert sie überzeugend, dass die Novelle alles andere als ein 'überkommenes Auslaufmodell' (S. 112) in der Gegenwartsliteratur sei. Jeder der vier untersuchten Texte würde sich vielmehr Gattungsstereotypen als etablierte Formen bedienen, um deren 'Daseinsberechtigung' (S. 37) 'im polyphonen Stimmengewirr der Jahrtausendwende' (S. 37) zu reflektieren. Wassmann stellt sich hier die Aufgabe, herauszuarbeiten, wie dieses selbstreferentielle Spiel mithilfe 'postmoderner Techniken' (S. 32) jeweils spezifisch gelingt, und orientiert ihre Analysen folgerichtig an den Parametern Intertextualität und Intermedialität. Dabei liegt der Schwerpunkt ihrer Analysen deutlich auf intertextuellen Bezügen. Intermediales untersucht sie nur kursorisch und höchstens unter thematischen Gesichtspunkten.
Die literaturtheoretische Basis stellt dabei vor allem die Unterscheidung zwischen impliziter und expliziter Intertextualität dar (Ulrich Broich und Manfred Pfister). Und so ist der Vorteil der Studie gleichzeitig ihr Nachteil: So hilfreich diese Unterscheidung für die pragmatische Begrenzung unbegrenzter Textbewegungen auch sein mag, so theoretisch unbefriedigend ist sie letztlich. Denn Elena Wassmann denkt 'Intertextualität' dann, wenn es ihr darum geht, die 'metanovellistische[n], intertextuelle[n] und intermediale[n] Verweise' (S. 37) ihrer Kontingenz zu entheben, konsequent von der jeweiligen 'Autorintention' her. Aber genau damit unterläuft sie die bei Julia Kristeva so wichtige Theorieumstellung von der Achse der Intersubjektivität auf die der (Inter-)Textualität. Die Feststellung etwa, dass sich Sachbücher 'wenig als Spielfeld akademischer Auslegungsversuche' (S. 298) eignen würden, kann vor diesem Hintergrund wenig überzeugen. Und auch wenn die relativ ausführliche Kommentierung von Dürrenmatts 'Der Auftrag' durch Jean Baudrillards 'pessimistische Medienphilosophie' sehr plausibel sein mag, stellt sich doch die Frage, warum nicht etwa Niklas Luhmanns Medientheorie und der damit verbundene Beobachterbegriff an dieser Stelle nicht mindestens genauso relevant hätte sein können.
Elena Wassmann scheint sich der Kontingenz ihrer Analysen bewusst zu sein, wenn sie ihre eigene Vorgehensweise und die der Literaturwissenschaft insgesamt als 'Auslegungsspiel akademischer Eliten' (S. 306) zum Teil (offensichtlich) ironisierend charakterisiert. Letztlich liegt es folgerichtig an den Leserinnen und Lesern, die hier nur punktuell angesprochenen Folgekosten der Theorieentscheidungen abzuschätzen. Insgesamt argumentiert die angenehm transparent strukturierte Studie, die als Dissertation an der Universität Mannheim entstand, nämlich auf der Basis ihrer theoretischen Annahmen durchgehend schlüssig und nachvollziehbar. Sie arbeitet die intertextuellen Bezüge und das selbstrefentielle Spiel der vier behandelten Texte kanonischer Autoren der Gegenwart mit der Gattungsform 'Novelle' detailliert heraus.