2009 ist ein 'Humboldt-Jahr'. Alexander von Humboldt, auf den damit Bezug genommen wird, starb vor 150 Jahren. Dies lenkt den Blick auf für die Ausbildung der Geographie als Wissenschaft so grundlegende Werke wie den 'Kosmos' oder die 'Ansichten der Natur', auf die Wurzeln der Physischen Geographie also. Gleichfalls vor 150 Jahren starb mit Carl Ritter aber auch der Begründer der Anthropogeographie. 2009 ist also ein geographiegeschichtliches 'Top-Jahr'.
Das mag es rechtfertigen, ein Buch, das bereits seit zwei Jahren auf dem Markt ist und eine Zwischenbilanz der Geographie 150 Jahre nach Humboldt und Ritter geben will, erst erheblich zeitversetzt vorzustellen. Diese Zwischenbilanz ist schon vom Äußeren her in jeder Hinsicht voluminös und gewichtig: mit 1096 Seiten und einem Gewicht von knapp drei Kilogramm. Ein solches Handbuch hat gefehlt. Herausgeber sind international anerkannte Geographen: Hans Gebhardt, Rüdiger Glaser, Ulrich Radtke und Paul Reuber. Mitgearbeitet haben fast 130 Autorinnen und Autoren. Denn: Was Humboldt oder Ritter noch als Einzelne leisten konnten, das bedarf heute der vernetzten Kompetenz.
Das Ergebnis ist eine weit über ein Jahrzehnt hinauswirkende Darstellung dessen, was Geographie heute an Themen abdeckt.
Im ersten Kapitel werden Raum, Region und Zeit als Kategorien und Forschungsfelder der Geographie entfaltet. Stichworte sind hier u.a. Regionen und räumliche Identität, Mikrogeographie, Globalisierung, Zeitlichkeit räumlicher Prozesse. Die Geographie wendet sich damit heute Fragestellungen zu, die sie als zukunftsorientierte Wissenschaft ausweisen. Entsprechend sind ihre beiden ursprünglichen, von Humboldt und Ritter vorgegebenen Säulen um eine dritte erweitert worden, denn zur Physischen Geographie und Humangeographie sind die Umweltökologie, Humanökologie und Politische Ökologie gekommen. Entsprechend breit und vielfältig ist das Methodenspektrum der Geographie. Ihm gilt das dritte Kapitel. Dessen Aufbereitung erinnert in seiner gedanklichen Struktur an Immanuel Kant. Aber der war ja nicht nur Philosoph, sondern nicht zuletzt auch Geograph (vgl. z.B. seinen 'Entwurf [...] der physischen Geographie' von 1757). Entsprechend fragen die Herausgeber: 'Was können wir wissen?' ' 'Was können wir verstehen?'.
Es folgen die drei Hauptkapitel in der Abfolge Physische Geographie, Humangeographie sowie Natur und Gesellschaft. Diese drei Kapitel sind ein vorzügliches Kompendium geographischen Wissens. So werden im Kapitel Physische Geographie die Klimageographie, Geomorphologie, Bodengeographie, Biogeographie, Hydrogeographie, Landschafts- und Stadtökologie dargestellt. Das Kapitel schließt mit Beispielen aktueller interdisziplinärer Forschungsfelder (darunter Umweltbilanzierungen oder die Klimadiskussion). Ähnlich ist das folgende Kapitel Humangeographie aufgebaut. Es gliedert sich in Sozialgeographie, Geographie des ländlichen Raumes, Stadtgeographie, Wirtschaftsgeographie, Geographie des Handels und der Dienstleitungen, Geographie der Freizeit und des Tourismus, Verkehrsgeographie, Politische Geographie, Bevölkerungsgeographie, Geographische Entwicklungsforschung, Historische Geographie. Den Abschluss bilden auch hier Beispiele interdisziplinärer Forschungsfelder (darunter Postmodernisierung der Stadt oder Megastädte).
Das Handbuch schließt mit einem Kapitel über Schnittfelder von Physischer Geographie und Humangeographie, also einer Schnittmenge, die der Rezensent als Ökogeographie bezeichnet. Zentrale Aspekte sind dabei der Global Change und Hazards. Manifestiert sich der Global Change in Syndromkomplexen und globalen Ressourcenkonflikten (als Stichworte: Globaler Wandel und Grenzen des Wachstums, Klimawandel, Biodiversität und Artenverlust, Wald-, Wasser- und Ressourcennutzungskonflikte), so fasst der Begriff Hazards signifikante Naturgefahren und Naturrisiken zusammen.
Der Band ist damit weit mehr als nur eine Zwischenbilanz der Geographie. Er kann getrost als moderner Versuch gesehen werden, im Geist des humboldt'schen 'Kosmos' eine thematische 'Weltbeschreibung' zu entwerfen. Vom Volumen und Gewicht her sind beide zu vergleichen. Von ihrem wissenschaftlichen Ertrag ebenfalls.