Vor allem bin ich 'ich'
Judentum, Akkulturation und Antisemitismus in Arthur Schnitzlers Leben und Werk

Dass das Judentum im Leben und Werk Arthur Schnitzlers von enormer Bedeutung war, steht außer Debatte. Auch dass dieses Thema bereits schon einige Male aufgegriffen wurde, mag bekannt sein. Doch nun liegt seit einem Jahr ein neues opulentes Werk vor, welches sich mit der Religiosität Schnitzlers gründlich auseinandersetzt. Nikolaj Beier, der Autor, hat sich zum Ziel gesetzt, das Judentum, die Akkulturation und den Antisemitismus im Leben sowie im Werk dieses großen Schriftstellers darzustellen und diese gleichzeitig im Kontext der Wiener Moderne zu kommentieren. Dieses Ziel wird auf etwa 620 Seiten (inklusive Tabellen zur Entstehung der Figuren und Verzeichnisse) akkurat verfolgt und setzt lange und akribische Studien voraus. Doch nicht nur darin liegt die Stärke dieser Arbeit. Erwähnenswert erscheint die Tatsache, dass man Schnitzler nicht nur als ein 'jüdisches Opfer' vorgeführt bekommt, sondern dass auch seine menschlichen Schattenseiten angesprochen werden: Gemeint sind die sogenannte ,Esoi'-Einstellung, die an mehreren Stellen unterstrichen wird, sowie ganz allgemein das Konkurrenzdenken gegenüber den anderen (nicht-)jüdischen Autoren der Zeit.
Leider fehlt es der Arbeit an einer konsequenten Struktur: Man fragt sich z.B., wieso der Grillparzer-Preis und die damit verbundene Affäre von 1914 als einleitende 'Symptome' genannt werden, wenn in weiterer Folge Ereignisse betrachtet werden, die nicht wenige Jahre zurückliegen. Zudem wirkt die Reihenfolge der anderen Kapitel nicht immer durchdacht und verwirrt den Leser hin und wieder. So wird erst im sechsten Kapitel die Familiengeschichte Schnitzlers analysiert, nachdem eines der untersuchten Hauptwerke bereits besprochen worden ist. Danach folgt die Analyse des späteren 'Professor Bernhardi', der ebenso vor 1914 entstand.
Des Weiteren werden Personen, die nicht als allgemein bekannt gelten können, kommentarlos erwähnt. Dasselbe geschieht bei einigen Fakten, welche ohne die notwendigen Quellenangaben genannt werden. Schwergewichtige Begriffe werden erst nach der zweiten Nennung erläutert; auch fehlen nach manchen längeren Zitaten die Kommentare, was sie zusammenhanglos erscheinen lässt.
Letzlich möchte man, dass bei einer wie hier vorliegenden detaillierten Interpretation von Primärwerken auf deren Fabel eingegangen wird. Dies geschieht jedoch nicht.
Nichtsdestoweniger wirkt die Charakterisierung der einzelnen Protagonisten und ihrer Einstellung zur jüdischen Welt, der sie ja oft auch angehören, sehr innovativ und lebendig, und man bekommt beinahe den Eindruck, die Figuren würden in diesem Sekundärwerk ihr 'Leben' führen. Ähnlich gut wird das gesamte Themengebiet von Judentum, Akkulturation und Antisemitismus dargestellt, so dass man durch diese Arbeit nicht nur einen Überblick über die wichtigsten 'jüdischen' Werke bekommt, sondern auch an die Hintergründe von Schnitzlers jüdischem Leben erinnert bzw. explizit in diese eingeweiht wird. Somit lohnt die Lektüre trotz der erwähnten Nachteile auf jeden Fall.