Von ca. 31.000 ins Baltikum verschleppten Juden aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei haben nur gut 1.100 Menschen den Judenmord überlebt. Von den lettischen Juden waren es ungefähr 1.000 Menschen ' das sind ungefähr 1,25 Prozent der jüdischen Bevölkerung. 'Alle anderen waren durch die selbsternannten Vollstrecker und willfährigen Gehilfen eines staatlich organisierten Massenverbrechens ermordet worden, für dessen Ungeheuerlichkeiten kaum Worte zu finden sind das sich jeglicher Gleichsetzung in der Geschichte der Menschheitsverbrechen letztendlich entzieht.' (S. 446) Zu dieser Bilanz kommen Andrej Angrick und Peter Klein gegen Ende ihrer detaillierten Studie über den Judenmord in Riga. Angeregt wurde die Untersuchung von der in New York ansässigen Vereinigung der Überlebenden des Rigaer Ghettos. Die Autoren nahmen dies auf und beschreiben ihr Vorhaben als 'eine erste umfangreiche Studie zur Geschichte des Rigaer Ghettos, der Menschen, die dort gelebt haben und zumeist auch dort gestorben sind, wie auch zu dem Ablauf der Verbrechen und zu den Tatverantwortlichen vorzulegen' (S. 8). Dieses Vorhaben setzen sie in vorzüglicher Weise um; die beiden renommierten Kenner der Geschichte des NS-Judenmords gehen aber immer wieder über die lokale Ebene hinaus, ordnen das Geschehen in Riga in den Gesamtzusammenhang ein und diskutieren die Entscheidungsprozesse, die zu dem geführt haben, was wir heute 'Holocaust' oder 'Shoah' nennen. So ist etwa ein eigenes Kapitel dem 'Weg zum Deportationsziel Riga' gewidmet und damit einer der zentralen Phasen in der Genese der 'Endlösung'.
Nach einem Kapitel 'Lettland zwischen den Diktaturen' liegt der Schwerpunkt des Buches auf der Geschichte von Juden im deutsch besetzten Riga sowie den hier Verantwortlichen. Wohl auch denjenigen verpflichtet, die die Studie angeregt haben, versuchen sie hierbei, so gut es angesichts der in vielen Fällen sehr lückenhaften Quellenüberlieferung möglich ist, auch Einzelschicksale darzustellen, Namen zu nennen, das Geschehen herunterzubrechen ' und das Los des einzelnen Individuums umso monströser erscheinen zu lassen. Gerade, wenn es um das Leben im Ghetto geht, hätte man sich die Ausführungen noch ausführlicher gewünscht. Die Rolle und die Verantwortlichkeit der einzelnen Besatzungsorgane werden eingehend dargestellt, ebenso wie die Kollaboration der Letten.
Wie radikal Judenverfolgung und -mord dabei in dieser Region vonstatten gingen, mag die Bilanz des ersten Monats deutscher Besatzung verdeutlichen: 'Ein Monat unter deutscher Besatzung hatte Zerstörung, Entbehrung und vor allem Mord gebracht, wobei den Pogromen die Massenexekutionen in den Wäldern von Bikernieki folgten. Die Synagogen waren zerstört, die Geschäfte und das Vermögen konfisziert worden, ein Großteil der jüdischen Intelligenz und viele Männer im wehrfähigen Alter ermordet, das Gemeindeleben erloschen. Das jüdische Riga existierte nicht mehr.' (S. 99) In der Folge wurde ' ab dem 1. September 1941 unter Kontrolle der Zivilverwaltung im neu errichteten Reichskommissariat Ostland unter Leitung von SA-Obergruppenführer Hinrich Lohse ' ein Ghetto errichtet, wie anderswo im besetzten Europa auch hier in einer der heruntergekommensten und ärmsten Gegenden, der Moskauer Vorstadt. Im Laufe des Monats August 1941 wurden die Juden Rigas systematisch aus den anderen Gebieten der Stadt in das sogenannte Große Ghetto vertrieben. Am 25. Oktober wurde das Ghetto mit Stacheldrahtzaun vom Rest der Stadt abgetrennt. Seit Anfang November schaltete sich der neu eingesetzte Höhere SS- und Polizeiführer Ostland Friedrich Jeckeln in die 'Judenpolitik' ein ' mit verheerenden Folgen. Auf Anweisung Heinrich Himmlers soll Jeckeln (ein 'mörderischer Antisemit', S. 140) das Ghetto liquidieren. Parallel zu den Planungen des folgenden Massakers bei Rumbula, etwa zehn Kilometer von Riga entfernt, wurde in einem Teil des Ghettos das sogenannte Kleine Ghetto eigens abgeriegelt. Hierher mussten Ende November die wenigen lettischen Juden, die als Arbeitskräfte zunächst weiterleben durften, umziehen, während die deutschen Juden, deren Ankunft bevorstand, im Großen Ghetto untergebracht werden sollten. Gegen alle Anweisungen ließ Jeckeln eigenmächtig die am 30. November 1941 mit dem ersten Transport aus dem Reichsgebiet eintreffenden 1.000 Juden aus Berlin direkt nach Rumbula weiterschicken und erschießen. Am 30. November und 8. Dezember 1941 wurden etwa 27.800 Menschen in Rumbula ermordet.
Die Transporte der deutschen Juden und deren Schicksal bilden einen großen Schwerpunkt des Buches. Viele von ihnen wurden auf dem Gutsgelände 'Jungfernhof' in Baracken unter katastrophalen Bedingungen untergebracht. Die ersten deutschen Juden, die im Ghetto selbst leben mussten, wurden am 7. Dezember 1941 von Köln in Richtung Riga verschleppt, das sie drei Tage später erreichten. Bis zur Jahreswende waren über 4.000 Menschen in das Ghetto gebracht worden. Ein 'Ältestenrat der Reichsjuden im Ghetto zu Riga' unter Vorsitz von Max Leiser aus Köln wurde ins Leben gerufen. Zwischen dem 12. Januar und dem 10. Februar 1942 trafen mehr als 10.000 weitere Juden aus dem 'Großdeutschen Reich' in Riga ein.
Mehrere hundert Juden aus den Transporten Ende 1941 waren direkt in das Lager Salaspils gebracht worden, um dieses aufzubauen. Aufgrund des gravierenden Arbeitskräftemangels hatten Juden im Reichskommissariat Ostland als Zwangsarbeiter eine Überlebensfrist; doch hatte gleichzeitig bereits die 'Aktion Dünamünde' im Frühjahr 1942 allen Juden gezeigt, wie unsicher ihre Existenz auch als Arbeitskraft letztlich war: In mehreren Erschießungen wurden vermutlich ungefähr 1.800 Menschen aus dem Jungfernhof und 3.000 aus dem Ghetto ermordet: 'eine tiefe Zäsur' (S. 344) in der Wahrnehmung der überlebenden Deportierten. So sollte sich die weitere Geschichte der Juden in Riga und Umgebung in der Folge zunächst zwischen 'Zwangsarbeit und Vernichtung' (Kapitel 15) bewegen, dann jedoch gewannen die ideologischen Prämissen die Oberhand: 'Vernichtung statt Zwangsarbeit' (Kapitel 17). Himmler ließ das Ghetto Riga zunächst, möglicherweise von Jeckeln initiiert, am 2. April 1943 rückwirkend zum 13. März in das Konzentrationslager Riga umwandeln, was einen Vorteil gegenüber der Zivilverwaltung und einen Machtzuwachs des HSPFF bedeutete. Am 21. Juni ordnete er an, dass Juden im Reichkommissariat Ostland ausschließlich in Konzentrationslagern zusammenzufassen seien. Vermutlich im März 1943 begannen die Bauarbeiten im Rigaer Villenvorort Mezaparks (Kaiserwald). Im Juni 1943 bestand das KL Kaiserwald aus höchstens je vier Baracken für Männer und Frauen, wesentlich erweitert wurde das Lager danach nicht mehr. Trotz der bisherigen Erfahrungen verschlimmerte sich die Situation der hier eingelieferten Häftlinge aus deren Sicht noch. Die Einweisung der ersten Häftlinge im Juli 1943 leitete die Auflösung des Ghettos ein, zahlreiche weitere Juden wurden bei ihren Arbeitsstätten kaserniert. Auch in den kleineren Lagern herrschte Willkür, was die Autoren im Hinblick auf den Holocaust in Lettland formulieren lässt: 'Im Gesamtgeschehen dominieren die Einzelmorde aus Tötungslust, zur Bestrafung oder zur Abschreckung.' (S. 405) Am 2. November 1943 trieb die Sicherheitspolizei, während die Arbeitskräfte das Ghetto verlassen hatten, alle Kinder und Kranken zusammen und deportierten sie nach Auschwitz, im März 1944 kam es zu einer 'Kinderaktion' in Kaiserwald. Dort und 'in Salaspils fand das Morden kein Ende' (S. 423). Ende September wurden die Lager evakuiert, der letzte Transport stach am 10. Oktober 1944 in See, Zielhafen war Danzig, die Häftlinge wurden ins Konzentrationslager Stutthof gebracht; manche von ihnen wurden hier noch zum Opfer der letzten Vergasungen. Andere mussten während der Evakuierung des Lagers noch weiterziehen.
Das abschließende Kapitel 'Der Neubeginn und die Suche nach Gerechtigkeit' stellt die Probleme der Überlebenden nach dem Krieg dar und inwieweit die Täter zur Rechenschaft gezogen wurden. Einige von ihnen überlebten das Kriegsende gar nicht, Friedrich Jeckeln wurde von einem sowjetischen Militärgericht verurteilt und am 3. Februar 1946 hingerichtet. Dass 'das deutsche Strafrecht für die Ahndung von genozidalen Verbrechen nur bedingt geeignet war' (S. 458) zeigen die Verfasser anhand zahlreicher anderer NS-Täter auf, hier stellt das Beispiel Riga also keine Ausnahme dar.
Die traurige Bilanz der Jahre 1941-1944 in der behandelten Region wurde eingangs bereits zitiert. Mit der Untersuchung von Andrej Angrick und Peter Klein liegt endlich eine akribisch genaue Untersuchung des Judenmords in Riga vor, die neben der Darstellung der Entscheidungsprozesse, der Abläufe und Verantwortlichkeiten zudem versucht, die Stimmen der Betroffenen einzubeziehen, wo dies möglich erscheint.