Die Jahre der Vernichtung
Das Dritte Reich und die Juden. Zweiter Band: 1939-1945

Für den ersten Band von 'Das Dritte Reich und die Juden: Die Jahre der Verfolgung 1933-1939' hat Saul Friedländer 1998 den Geschwister-Scholl-Preis bekommen. Nun liegt der lange erwartete zweite Band vor, in dem der Historiker, der Professor an den Universitäten von Tel Aviv und Los Angeles ist, das fast unmögliche unternimmt: eine Darstellung der 'Jahre der Vernichtung', in der er die Perspektiven der Täter, der Opfer sowie der Zuschauer und irgendwie Beteiligten im ganzen deutsch besetzten Europa verflechtet. Eine Einbeziehung der Opferperspektive in die Geschichtsschreibung des Holocaust hat Saul Friedländer seit geraumer Zeit gefordert und diese bereits im ersten Band des zu besprechenden Bandes beispielhaft umgesetzt.
Friedländer bezieht also auch im vorliegenden Band die Reaktionen der Betroffenen ein und er untersucht damit gleichzeitig die Interaktionen auf der Mikroebene anhand von persönlichen Dokumenten, die selbst bereits veröffentlicht in erstaunlicher Vielfalt vorliegen. Saul Friedländer gelingt es, die Tagebücher, Briefe und Erinnerungen in einzigartiger Weise in seine Interpretation und Darstellung der Judenverfolgung und 'vernichtung einzuflechten. Er geht dabei davon aus, daß 'eine individuelle Stimme, die sich plötzlich im Verlauf der gewöhnlichen historischen Erzählung von Ereignissen wie den hier dargestellten erhebt, eine glatte Interpretation und die (meist unwillkürliche) Selbstgefälligkeit wissenschaftlicher Distanz und 'Objektivität' durchbrechen' kann (S. 24). Damit behält er Recht, wie sich im Laufe seiner knapp 700 Seiten starken Untersuchung zeigt. Die mögliche Distanz zum Dargestellten wird nahezu pausenlos unterbrochen und ersetzt durch Entsetzen und Fassungslosigkeit; zwar wolle historische Forschung diese normalerweise durch Erklärung und Analyse beseitigen, jedoch möchte Friedländer in seinem Buch 'eine gründliche historische Untersuchung über die Vernichtung der Juden Europas vorlegen, ohne das anfängliche Gefühl der Fassungslosigkeit völlig zu beseitigen oder einzuhegen' (S. 25).
Eindringlich schildert Friedländer, wie es für die europäischen Juden immer weniger Auswege gab, wie immer mehr von ihnen in die Hände der Nationalsozialisten gerieten. Er berichtet über den jeweiligen Zeitabschnitt und das jeweilige Thema dabei in meist kurzen Abschnitten hintereinander aus den verschiedenen Regionen Europas. Er zitiert dabei ausführlich aus den Quellen, vor allem aus Tagebüchern, gibt den Stimmen der Verfolgten breiten Raum. Anders als in vielen Studien der letzten Jahren steht in Friedländers Analyse der Ingangsetzung der 'Endlösung' wieder Hitler im Mittelpunkt: Durchgängig kehrt er immer wieder zu diesem zurück, analysiert seine Reden, setzt sie zueinander in Beziehung. Und auch hier zitiert er ausführlich aus den Quellen.
Friedländer unterteilt das Geschehen und auch seine Untersuchung in drei Teile: 'Terror' (Herbst 1939 ' Sommer 1941), 'Massenmord' (Sommer 1941 ' Sommer 1942) und 'Shoah' (Sommer 1942 ' Frühjahr 1945). Gab es in der ersten Phase zwar noch keinen präzisen Plan, so konstatiert Friedländer jedoch eine 'Grauzone mörderischer 'Freizügigkeit'' (S. 214), die den Übergang zum systematischen Massenmord erleichterte. In der Schilderung der Massenerschießungen seit dem Sommer 1941 wird das Grauen des Massenmordes verstärkt durch einzelne Geschichten, von denen der Autor berichtet; so etwa den Fällen, in denen sich Mörder und Opfer von früher kannten. Es gibt verschiedene Interpretationen darüber, wann die Entscheidung gefällt wurde, alle Juden Europas zu ermorden, sicher ist jedoch, so der Autor: 'Der Entschluß wurde irgendwann im letzten Quartal des Jahres 1941 gefaßt' (S. 314). Und noch etwas steht in diesem Zusammenhang für Friedländer fest: 'Wir wissen nicht, zu welche Zeitpunkt Hitler das Projekt einer sofortigen Vernichtung zu erwägen begann; soviel jedoch ist sicher: Das Timing der Entscheidungen Hitlers war eine Sache der Umstände, die Entscheidungen als solche waren es nicht' (S. 315). Im Sommer 1942 dann 'erreichte der deutsche Überfall auf die Juden Europas sein volles Ausmaß' (S. 432). Immer weiter dehnte sich der Massenmord auch räumlich aus. Auch in der Beschreibung dieser Phase folgt Friedländer der Darstellungsform rascher Szenenwechsel, er 'springt' zwischen Orten und Regionen hin und her, das Erzähltempo ist ungeheuer groß, nimmt dem Leser nahezu den Atem ' genau wie das, was Friedländer hier beschreibt.
Saul Friedländer erklärt in seiner grandiosen Darstellung der 'Jahre der Vernichtung' vieles und bietet überzeugende Darstellungen ' die Fassungslosigkeit aber beseitigt er eben nicht.